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 na dann... 09/2021
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mittelte, Studenten und andere. Es dominierten „Linsen mit Spätzle“, wenigstens 2x wöchent- lich. Die „Saitewurscht“ extra, wer Geld dafür hatte. Ein halber Liter Apfelsaftschorle. Zusam- men ohne Beilage 1,50 DM. Manchmal stand auf der Anzeigetafel „Saure Kuddeln“. Zerriges Fleisch in einer pikanten Brühe mit ein paar, na was wohl, Spätzle. Dass es sich um Innereien handelte, verriet mir später ein Kommilitone. Immerhin, Fleisch in der Woche. Oder „Filder- kraut mit Krumbiere“, was Spitzkohl mit Kartof- feln meinte.
Am Sonntag gönnte ich mir einen Gasthaus- besuch. Wieder Neuland. Der „Gaisburger Marsch“ ist kein Musikstück, das sich auf die Speisekarte verirrt hat, sondern ein deftiger Eintopf, „Sonntagsmaultaschen“ unterscheiden sich von den Werktagsmaultaschen dadurch, dass sie nicht mit Spinat, sondern Hackfleisch gefüllt sind. So allmählich, wie ich mit der Spei- sekarte vertraut wurde, so fand ich mich in Le- bensweise und Dialekt hinein. Manches blieb zunächst rätselhaft, so wie an jenem Spät- herbstabend, als ich, nun bei einer jungen freundlichen Buchdruckerfamilie wohnend, vom Gretli geweckt wurde.
Es war recht kalt schon in der Wohnung. Das Gretli (5), frierend im dünnen Nachthemdchen, antwortete auf meine verschlafene Frage „Was ist den los?“ ganz aufgelöst und den Tränen nah „es Walterle broddelt“. Alarmiert sprang ich aus dem Bett, nahm sie an der Hand und eilte in die noch warme Küche. Die Eltern waren „zum Singe“. Aus dem Schlafzimmer kamen unge- wohnte Geräusche. Das Walterle, etwa ein Jahr jung, im Ehebett der Eltern liegend, hatte sich von seinem Schlafsack befreit und unter das schwere Daunendeckbett der Mama gewühlt, schwitzte fürchterlich, weinte und schnaufte nach Luft. Aha, es „broddelt“. Ich konnte es be- freien, das Broddeln aber nicht abstellen. Das
Kommschalt
besorgte die Mama, die gerade zurückkam. Absonderliches begegnete mir immer wie- der. Im Winter fuhr ich einmal mit der Tram 1 zum Mineralbad Berg. Die Bahn bremste und schon gab es einen heftigen Ruck, sie stand. Wütend riss ein Polizist die Fahrertür auf und brüllte „Hasch onsern Wage net gsähe?“ Ein Streifenwagen, der wohl auf dem Gleis stand, war angefahren worden. Brüllt der Tramfahrer zurück: „Noi, i hab euch net sehe könne, wenn ihr Dackl auf de Schiene parkt, mei Scheib war
doch ganz fescht zug’frore!“
Eines Tages waren die Prüfungen bestanden,
meine Verlobte fragte, ob sie nach Stuttgart kommen und mich auf der Heimreise begleiten solle – was antwortete ich ihr nach ein paar Se- mesternschwäbisch?„Kommschalt“.Undfreute mich.
Volker Hentig
ist 91 Jahre alt und
wohnt mit seiner Frau in Bielefeld. Beruflich war er Unternehmer.
    





















































































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