Von Manni, 17.06.2020

Grüße von der Insel #11

(mex) Elf Wochen ist es jetzt her, dass ich hier mit Euch ein wenig durch meine Berliner Nachbarschaft spaziert bin. Der Lockdown war da bereits im vollen Gange, flankiert wurde er von nicht für möglich gehaltenen Gesetzten mit spektakulären Titeln wie „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Ich erinnere mich. Bei bestem Wetter schlenderte man durch die Straßen, das Verkehrsaufkommen bewegte sich gegen Null und von allen Seiten drohte Virusbefall durch Einatmung oder Tröpfchenabsorbierung. Der distanzierte Coronagruß war inzwischen ebenso Alltagsroutine, wie das desinfizierende Reinigen des Smartphones oder der fortwährende Stresstest für die Handhaut durch einen gründlichen und mindestens dreißigsekündigen Waschensvorgang. Zu den Höhepunkten des unterfordernden Tagesablaufes gehörten tatsächlich Tätigkeiten wie der Besuch des nächstliegenden Lebensmittelhändlers oder, im deutlich besseren Fall, schlichtes Nichtstun. Denkt man an die Anfänge dieser neuen Zeit, so scheinen diese bereits ewig zurück zu liegen. Die Merkel-Reden im März. Die tägliche Aufklärung über die Seuche durch einen recht spröden Professor namens Lothar H. Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts. Der Abbruch der Fußball-Bundesliga. Das Kennenlernen des Wissenschaftlers Christian Drosten. Die katastrophalen Nachrichten aus Italien. Die ersten verstörenden Signale des amerikanischen Präsidenten. Das alles liegt erst wenige Wochen zurück. Und doch haben sich all die neuen Regeln, Distanzierungen, Entwöhnungen oder Opfer ganz schnell zur neuen Realität entwickelt, die die rückblickend paradiesischen Zustände der Vor-Virus-Zeit immer mehr verblassen lässt.

Gedenkstätte: Die Kohlehandlung von Annedore und Julius Leber, Treffpunk des Widerstandes

Wie sah es einst aus, dieses Paradies und hat das knappe Vierteljahr etwas verändert? Ich komme zurück zu meiner Nachbarschaft und gehe noch einmal mit Euch vor die Tür. Wir befinden uns in der Leberstraße, der „Hauptstraße“ der so genannten „Rote Insel“ in Berlin-Schöneberg. Und da erhalten wir schon den Hinweis, dass hier schon ganz andere Katastrophen durchs Land gezogen sind. Namensgeber ist Julius Leber, von 1924 bis 1933 Reichstagsabgeordneter der SPD. In Folge der Machtübernahme Hitlers verbrachte er zwei Jahre in den Konzentrationslagern Esterwegen und Sachsenhausen. Nach seiner Entlassung tarnte er sich als Kohlenhändler. Reste des Nachfolgegebäudes der Firma Bruno Meyer, die ursprüngliche Kohlehandlung wurde im Krieg zerstört, fungieren in ihrem einigermaßen erbärmlichen, lieblos erhaltenen Zustand als Gedenkstätte und sind an der Ecke Leberstraße und Torgauer Straße noch heute zu besichtigen. Leber arbeitete im Widerstand gegen das Nazi-Regime, schloss sich der Bewegung um Graf von Stauffenberg an und war in dessen Putschplänen als Innenminister vorgesehen. Schon vor dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde Julius Leber von der Gestapo verhaftet und am 5.Januar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.


Leberstraße, die Hauptschlagader der roten Insel

Heutzutage hat sich die Leberstraße auf den Weg gemacht, eine hippe und angesagte Wohnstraße zu werden. Gott sei Dank ist sie da noch nicht ganz angekommen. Zugegeben, in den letzten zwölf Jahren mussten einige Lokalitäten wie Kohlehandlungen, An- und Verkauf, Gemischtwarenhändler oder Tante-Emma-Läden die Segel streichen. Und zwar zu Gunsten ausgefallene Kaffeespezialitäten servierender Frühstückscafés oder halbnobler Sushi-Bars. Well, alles halb so wild, so lange es nur das „Inselnest“ gibt. Hier, etwa in der geographischen Mitte der Straße, haben wir es mit ihrem emotionalen Zentrum zu tun. Hätte ich besser schreiben sollen „hatten wir es mit ihrem emotionalen Zentrum zu tun“? Hier kann das Virus tatsächlich seine Spuren hinterlassen. Bis März 2020 war das „Inselnest“ DIE Kneipe des Viertels. Ob alt oder jung, arm oder reich, allein oder gruppiert, laut oder leise, glücklich oder verzweifelt, im Inselnest war jeder Kunde und jede Kundin herzlich willkommen. Limo oder Wodka, Darts oder Billard, Bulette oder Erdnüsse, Jukebox oder Playlist, Schlager oder Rock ´n Roll, Flipper oder Tageszeitung. Das Angebot war stimmig, das Kindl günstig und die Regeln einfach. „Ausschank nur an Barzahler (am selben Tag)“, so der wenig dezente Hinweis an die geschätzte Kundschaft – auch für Teilnehmer mit erhöhtem Promillepegel gut lesbar über der Theke angebracht. Man kannte offensichtlich seine Pappenheimer. Twentyforseven. Macht einhundertachtundsechzig die Woche. Nie zu. Tag after Tag, Woche für Woche, Jahr um Jahr. Musste man in seligen Vor-Corona-Zeiten früh morgens zur S-Bahn eilen, winkte man durch matte, nikotingegilbte Scheiben den an der Theke sitzenden Menschen zu, mit denen man zuvor noch bis weit nach Mitternacht angestoßen hatte. Und kam man spät abends zurück, so war nie ganz klar ob dieselben Kollegen immer noch, oder schon wieder vor Ort waren.


Inselnest im Lockdown: Von jetzt auf gleich 00/0

Und dann war ja ruckartig Schluss. Von heute auf morgen Nullnull. Macht pro Woche null. Hatte man bis hierher vielleicht noch nicht so ganz verstanden, was die Uhr eigentlich geschlagen hatte, so doch spätestens jetzt. „Ah, verstehe, Lockdown heißt, auch das 'Inselnest' muss schließen? Oh shit.“ – Sei´s drum, die Tür ist plötzlich verrammelt, die Fenster mit Brettern vernagelt. Jetzt wird es also langsam wirklich gruselig. Was machen die Stammkunden eigentlich ohne ihr Wohnzimmer? Ein wenig hatte die Welt aufgehört sich zu drehen - hier in der Leberstraße. Und hatte man sich inzwischen an so vieles, wenn nicht gar an fast alles, was die neue Zeit an Schrecklichem zu bieten hat, gewöhnt, so konnte man doch niemals ohne Schrecken am so schmerzhaft stillgelegtem „Inselnest“ vorbeigehen, einem traurigen Symbol der elenden Zeitenwende.


Inselnest reloaded: zurück zu 24/7

Bis letzten Mittwoch. Ganz plötzlich: The „Nest“ is back! Wie, hat sich die epidemische Lage von nationaler Tragweite etwa in Luft aufgelöst? Wohl kaum. Aber wer versteht denn heute wirklich warum etwas wieder erlaubt und anderes weiter verboten bleibt. Jedenfalls: Die drei Festzeltgarnituren halbieren wieder den Bürgersteig. Die komplette Stammkundschaft, ein nicht unbedeutender Anteil aus multiplen Gründen sicherlich zur Risikogruppe gehörend, scheint Corona überlebt zu haben und prostet sich bestens gelaunt und mit verklärtem Blicke zu. Fast als kämen sie aus demselben Haushalt oder wären Familie. Schulter an Schulter sitzen sie da, trinken, lachen, sprühen sich an und reden. Über die Seuche, die bevorstehende Happy Hour, die Hertha, das 1:4... das Leben und den ganzen Quatsch.


Eigentlich wollte ich ja mit Euch eine kleine Runde durchs Viertel drehen. Gekommen bin ich wieder einmal nur bis zum „Inselnest“. Mit zur Feier der Wiedereröffnung tatsächlich frisch geputzten Scheiben.
Und die Sushi-Bar hat übrigens inzwischen längst Pleite gemacht.

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Manfred Wex
ist seit 35 Jahren bei der nadann… , Musiker (u. a. Walking Blues Prophets) und lebt in Berlin.
manfred.wex@nadann.de

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