Von Manni, 02.09.2020

Grüße von der Insel #20

(mex) Der große Udo Lindenberg hat sich zu Wort gemeldet. Der Deutschen Presseagentur diktierte er: „Nur, wenn wir alle cool bleiben und uns an die Regeln halten, können wir das Ding unter Kontrolle kriegen. Wenn die hirntoten Risikopiloten durch die Aerosole zischen, wird es ganz viele noch erwischen. Wir brauchen die kollektive Mega-Power, also: Maske auf und mit panischer Konsequenz da durch!“ Kann eigentlich jemand diese Zeilen lesen, ohne parallel dazu die Message mit der legendären, zärtlich-rauen Nuschelstimme Lindenbergs zu verbinden. Da wird direkt ein Song draus. Aber Hallöchen.

Immer auf der Höhe der Zeit, der Mann. Vor gut drei Jahrzehnten, kurz vor der deutschen Wiedervereinigung, tauschte er nicht nur mit einem allmählich untergehenden Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker Lederjacke gegen Schalmei, er prägte 1989 auch mit seinem damals neuesten Werk den wunderbaren Begriff „Bunte Republik Deutschland“. Und bunt ist sie wahrlich, die Republik, auch wenn verschiedentlich verängstigend schillernde Farben den versammelten Teilnehmer*innen nicht immer zu einhundert Prozent gefallen. In so einem Falle kann es dann richtig interessant werden. Dann kann der clevere Udo genauso seine Meinung sagen wie der/die weniger schlaue XYZ. Und es ist, im Idealfall, gewünscht, erforderlich und erst recht möglich, für die eigene Meinung, solange alles im friedlichen Rahmen stattfindet, auf die Straße zu gehen.

Offensichtlich funktioniert das in der Regel ganz gut. Allein im vergangenen Jahr gab es in Berlin unglaubliche 5350 Demonstrationen. Dabei natürlich die ganz dicken Nummern, wie die Termine der „Fridays for Future“ Bewegung, den 1.Mai, den Christopher-Street-Day oder die Fahrrad-Sternfahrt des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs. Aber auch weniger große, bis hin zu sehr kleine Events stehen täglich auf der Tagesordnung. Muss ja, denn wir reden hier ja immerhin von 15 Demos pro Tag, wobei da jetzt auch schon alle Weihnachtstage etc. pp mit eingerechnet sind. Solidaritätsveranstaltungen für Griechenland und Assange, Proteste von Kleingärtnern und Kaninchenzüchtern, Widerstand sowohl gegen, als auch für Verkehrsberuhigungen - die Anliegen sind so vielseitig wie überraschend, so populär wie einsam. Apropos einsam, am Ende der Skala, zumindest was die Teilnehmerzahl anbelangt, bewegt sich die legendäre Ein-Mann-Dauerdemonstration des Aydin Akin, eines türkisch-berliner Mitmenschen, der sich „Wahlrecht für alle“ auf die Fahnen geschrieben hat und auf seinem Fahrrad sitzend und strampelnd seit über 15 Jahren auf mehr als 160000 Kilometern darauf aufmerksam macht, dass er zwar schon seit Jahrzehnten Steuern zahlt, aber immer noch nicht wählen darf.

„Und, wann zum letzten Male auf einer Demo gewesen? Jetzt komm´se mir aber bitteschön nicht mit Bonn und dem Nato Doppelbeschluss“ Huch, kann aber schon sein, oder? Doch das ist das Schöne an der Sache, man muss ja auch gar nicht. Wir halten hier lediglich noch einmal fest, das Angebot ist vorhanden und jeder kann sich daraus etwas aussuchen und gegebenenfalls sogar etwas hinzufügen, auch, wenn es dabei nur um irgendetwas mit Corona geht.

„Lass die Sau raus!“

Es heißt, wenn eines sicher ist in diesen schwierigen Zeiten, dann das, dass nichts mehr sicher ist. Wenn eins aber wirklich sicher ist, dann die Tatsache, dass, hat man einmal an einer Campact-Online-Aktion teilgenommen, man sich niemals mehr über eine mangelhafte Emailfrequenz wird beklagen können. Kein Scherz - und so flatterte auch diese Woche wieder eine eindringliche Aufforderung im Sinne der guten Sache ins Haus: Im Interesse des Tierwohls und zum Anlass des Sondertreffens der Agrarminister von Bund und Ländern wurde freundlich aber bestimmt darum gebeten, die Stimme zu erheben um das notwendige Ende des Billigfleischsystems möglichst lautstark einzufordern. Mit dem Fahrrad solle es, abstandsmäßig absolut hygieneregelkonform, vom Kanzleramt über die Lobbyvertretung des Deutschen Bauernverbandes und das Agrarministerium bis zum Tagungsort der Minister in der Saarländischen Landesvertretung nahe des Potsdamer Platzes gehen.


Immer schön auf die Hygiene achten

Eingeschweißt schwitzendes Hack für keine 60 Cent/100g, ganze halbe Hähnchen für unter 2 Euro, acht Bruzzzelwürste für knapp dreieuroachtzig? Das leuchtet doch ein, dass geht eigentlich gar nicht. Für das Geld kannst du an der Autobahn gerade ein- bis dreimal pinkeln. – Also: Nix zu tun, Wetter gut, Fahrrad vorhanden, ab ins Regierungsviertel und mitgemacht. Nach dem ganzen Tönnies-Theater allemal. Man trifft sich also am Fuße des Reichstages, Vertreter der verschiedenen veranstaltenden Organisationen „heizen ein“ und stellen dabei das später auf der Strecke eventuell zu verwendende Liedgut vor. Die Stimmung ist friedlich und entspannt, nette Helfer*innen verteilen bunte Fahnen und leckere vegane Berliner (für alle Berliner*innen: Pfannkuchen). Auf geht die Tour und mit einigen hundert Gleichgesinnten heißt es jetzt: Klingelingeling am Lenkrad und ernst-witzige Parolen auf den Lippen. Das macht ganz schön Krach und geht dann ungefähr so:<> „Stopt!... Das!... Billig_fleisch_system!“ oder schlicht und ergreifend „Lasst die Sau raus“. Das kostet, ob der wenig filigranen Poesie und der nach dem richtigen Ausdruck suchenden Stimme zunächst ein wenig Überwindung, das kann ich euch wohl flüstern. Aber dann, begleitet von einer roten, wunderbar glockenklangartig schallernden Bayern-München Fahrradklingel, stellt sich bald ein nicht unerheblicher Spaßfaktor ein. Passanten am Straßenrand wissen es zu schätzen und spenden Spontanapplaus.


Jedes Ferkel zählt

Am nächsten Tag ist zu hören, dass es auf Ministerebene doch noch nicht zu einer Einigung gekommen ist, was die Frage einer konkreten Tierwohlabgabe betrifft. Dabei wäre mit einem jährlichen Beitrag von etwa 35 Euro pro Durchschnittsverbraucher, so aktuelle Studien, in dieser Hinsicht doch wohl schon einiges möglich. Nun denn, stattdessen wird also eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, die zu besprechen dann im nächsten Jahr auf der Tagesordnung einer Sondersitzung stehen wird. Bis dahin wird definitiv noch so manchem armen Schwein aus Stallplatzgründen der Schwanz abgeknipst, beziehungsweise tausenden von Hühnern eben darum der Schnabel gestutzt. Also, Tempo bitte, sonst kommen wir nächstes Mal mit dem E-Bike und der großen Hupe.


Auch so ein begleitendes Corona-Phänomen: Allerorts ist zu hören und zu lesen, sollte das ganze Dilemma erst einmal vorbei sein, dann habe man doch die Hoffnung, vielleicht das eine oder andere aus der Krise gelernt zu haben. Ein Hoch auf die Solidarität und Zusammenhalt. Das finden wir doch alle gut. In der Not klatschen wir gemeinsam und geloben Besserung. Respekt für systemrelevante Arbeit, Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt, das und noch viel mehr kann doch das positive Echo der üblen und herausfordernden Erfahrungen der Viruszeit sein. Kein Problem, man sieht doch, was alles geht, zu welchen Opfern man bereit ist, wenn die Umstände es notwendig erscheinen lassen. Ein froher Wunsch in Gottes Ohr?

Nüchtern betrachtet lassen bisherige Ergebnisse und Beobachtungen eine vermeintlich rosige Zukunft doch eher unwirklich und düster erscheinen. Ist der Mensch vielleicht tatsächlich und unabänderlich so wie er ist. Mit all seinen Fehlern und vor allen Dingen, mit all seinen Fehlern? Warum denn eigentlich warten bis die Krise vorbei ist? Warum nicht direkt beginnen mit „Gemeinsinn first“? Gleich hier und heute. Haben wir etwas gelernt oder nicht? Dann sollten wir einfach gehen. Auf die Straße, zur Wahl oder mit gutem Beispiel voran. „Hinterm Horizont geht´s weiter...“ Jaja Udo, ist ja gut.

Manfred Wex
ist seit 35 Jahren bei der nadann… , Musiker (u. a. Walking Blues Prophets) und lebt in Berlin.
manfred.wex@nadann.de


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