Von Günter, 06.06.2018

LUTZ KRAJENSKI/ NICOLA CONTE/ LARRY GOLDINGS, PETER BERNSTEIN, BILL STEWART/ LEWIS PORTER/ DAVE HOLLAND/ AQUASERGE/ KIP HANRAHAN

Neuer Hut aus alter Krempe

Eine ganze Seite für die Jazz Polizei! Und gleich zu Beginn die kleine Provokation. LUTZ KRAJENSKI „Plays Hits Agogo“ hat nix mit den so betitelten Werken von James Last zu tun. Er verquirlt nicht klasse Pop Songs miteinander zu einem auch für nicht Musik Fans verträglichen Hintergrundgeräusch, für Lutz ist ‚agogo‘, das Hannoveraner Label für Afro-,Latino- und andere Grooves, der Track-Lieferant. So finden sich hier 11 ausgesuchte Titel, von u.a. Mop Mop über das Una Mas Trio und Mo Horizons bis Juju Orchestra in neuen, deutlich jazzigeren Arrangements. Von kleiner Besetzung mit exzellenter Sängerin (auf mehr als der Hälfte der CD) zu grösserer Ausstattung mit hörenswerten Bläser-Einlagen. Deutlich anders gut als die gewählten Vorlagen.


Spiritual Afro-Jazz?

Ebenfalls durchaus grenzwertig für die oben genannten ist NICOLA CONTE’s neue CD und Platte „Let your Light shine on“ auf MPS. Mit mächtigem Personal-Aufwand, allein 4 unterschiedliche Sängerinnen und 5 Bläser, dienen dem grösseren Teil der Songs afrikanische Rhythmen als Grundmuster. Als Wandler zwischen den Welten mischt er schon mal einen Perkussions-lastigen Housebeat darunter. Überwiegend gerade Rhythmen und die sehr runde Produktion lassen den Damen und Herren oben sicher die Brauen zucken.


Mit der Rumpfbesetzung Hammond, Gitarre und Drums machen die New Mastersounds z.B. astreinen Acid Jazz. Das entsprechend ausgerüstete Trio LARRY GOLDINGS, PETER BERNSTEIN und BILL STEWART nutzt die Möglichkeiten ganz anders. Statt feisten Grooves gibt es auf „Toy Tunes“ ein ganz feinfühliges, aufmerksames Miteinander. Dein kurzes Riff ist meine Harmonie-Grundlage und umgekehrt, dazu ein Drummer, der ebenfalls eher einer Melodie in seinem Kopf folgt, als ‚nur‘ eine rhythmische Grundlage zu liefern. Kurzum, deutlich näher an ECM, als an Acid Jazz.

Eine All Star Besetzung konnte LEWIS PORTER für sein „Beauty & Mystery“ gewinnen. Mit Terri Lyne Carrington an den Drums und John Patitucci am Bass plus als Gästin Tia Fuller am Saxofon. Basis und Strukturgeber ist sein exzellentes Klavierspiel, das ihn aber nie dazu verleitet, seine ‚Sidemen‘ ins Abseits zu stellen. Im Gegenteil, in den meist ziemlich langen Tracks glänzen Bass und Drums durch optimale Zusammenarbeit, besonders wenn einer von beiden die Standard-Begleitung aufbricht oder als aufmerksame Unterstützer der Ausflüge des Saxofons. Unbedingt gehört haben sollte m/f die Version von Curtis Mayfield’s „People get ready“. Ob der geahnt hat, was aus seinem Aufruf zu machen ist?

DAVE HOLLAND kann ich ohne weiteres als Urgestein des modernen Jazz bezeichnen. Seit mit Miles Davis in den spät 60ern hat er mit den wichtigsten Musikern der Gegenwart gearbeitet. Neben anderen Projekten, mit denen er seinen Lebensunterhalt verdient, gönnt er sich für „Uncharted Territories“ das Zusammentreffen mit seinem frühen Wegbegleiter Evan Parker (Sax). Noch dabei sind Craig Taborn (Piano) und Ches Smith (Vibraphon). Über 2 CDs huldigen diese Herren in meist Duo oder Trio Besetzung der improvisierten Musik. Das ist zugegeben ziemlich speziell. Wenn die Beteiligten dabei allerdings einen so aufmerksamen Umgang, ein derart fokussiertes Ohr auf das Tun des/der anderen an den Tag legen, kann m/f solche Musik sogar vom Tonträger geniessen.

Kurz und gut: AQUASERGE aus Frankreich demonstrieren in ihrer 9 Personen Band das das Lied des Rock Jazz noch längst nicht zu Ende gespielt ist. Zwischen Improvisationen über Riffs, die auch auf Rockalben zu finden sein könnten und konventionellen Bläsersätzen findet sich schon mal eine Gesangsstrophe oder auch ein „My funny Valentine“. Komplett Live eingespielt kann „Déjà-vous“ eine Verwandtschaft mit den späten King Crimson nicht verbergen.

Moralisches Statement

Zum Schluss: KIP HANRAHAN gibt mit seinem „Crescent Moon Waning“ einmal mehr ein fundiertes sowohl musikalisches als auch politisches als auch moralisches Statement ab. Hauptthemen: Kompositions- und Aufnahmemethoden und Arbeitsbedingungen für (seine) Musik und virtuelle Kriegsführung mit Drohnen für sein Verhältnis zu Macht und Welt. Während die Steuerer anonym und geschützt vor ihrem Bildschirm sitzen, müssen die Opfer bluten. Die Musik seines grossen Ensembels ist nach wie vor nicht irgendwie lokal zu verorten, komplexe Perkussionsmuster, gut ausgesuchte Stimmen und von Improvisation zum stramm arrangierten Song hat alles seinen unverwechselbaren Stempel, ist eigentlich immer eingängig, aber nie glatt.


Archivtexte Ohrenschmauch

Günter Günter

Beiträge 2018