Von Günter, 06.05.2020

LETITIA VANSANT/ ANDY FRESCO & THE U.N./ SEBASTIEN TELLIER/ BEN LUKAS BOYSEN/ MORTALITY/ ULRIKE HAAGE

Das kann m/f erwarten. Ein Album, das in Nashville aufgenommen wurde, wird ziemlich sicher auch Country Music enthalten. Findet sich auch auf LETITIA VANSANTs „Circadian“. Aber nicht nur das. Mit wandlungsfähiger Stimme bringt sie auch gut ausgedachte Singer /Songwriter-Klänge zu Gehör. Beschreibt in den Texten ihre Gefühlswelt und die von den darin vorkommenden Zeitgenossen und daraus resultierendes Verhalten. Erstaunlich für mich, das einige ihrer Songs in Vers-Mass und Harmonien sehr verwandt sind mit britischem Folk-Pop der frühen 70er.

Nach diesem zurückhaltenden, eher introvertierten Werk jetzt etwas mit Druck. ANDY FRESCO & THE U.N. basteln ihren strammen Sound aus 60ies R’n’B / Soul, gespielt mit der Wucht einer Rock-Band. Rhythmusgruppe plus Orgel und Saxofon, wie betagtere Leser es aus den 70ern kennen. Erinnert mich in Idee und Ausführung stark an Southside Johnny und seine Band, phasenweise sogar an den frühen E-Street Band Sound. Hier singt zwar nicht der Boss, aber Andy weiss genau, wie er seinen Vortrag spannend und wirkungsvoll hält. „Keep on keepin‘ on“ ist dabei der korrekt gewählte Titel für das, was er und seine Combo seit Jahren praktizieren.

SEBASTIEN TELLIER hat sich für „Domesticated“ 5 Jahre Zeit gelassen. Vom jungen Wilden hat er sich scheinbar zum gemütlicheren Erwachsenen gewandelt. So viele schöne Melodien gab es, erinnere ich mich, noch nie auf einem einzelnen seiner Alben. Hier sogar manchmal ein wenig 80er Disco-Glamour und angedeutete funky Grooves. Alles schön rund und eingängig für den leichten Konsum nebenbei. Allerdings habe ich seit Peter Frampton ‚Comes alive‘ ein schwieriges Verhältnis zu elektronisch verfremdeten Stimmen.

Elektronische Visionen

Einen sehr viel experimentelleren Ansatz verfolgt BEN LUKAS BOYSEN. Sein „Mirage“ ist wirklich ein wenig Sinnestäuschung. Elektronische Sounds und ‚richtige‘ Instrumente und Stimmen, die derart verändert, zerlegt und neu zusammengesetzt werden, das der ursprüngliche Klang fast nicht mehr zu identifizieren ist. Streng und minimalistisch durchkomponiert, mit Zutaten von Cello, Saxofon, Harfe, Piano und Stimme bewegt sich seine Vision durch luftige Freiräume, schrammt gelegentlich knapp am Song vorbei und wirkt trotz elektronischer Verfremdung nie schrill oder aufgeregt. Ein klares Konzept, eine genaue Vorstellung und die nötige Kreativität, dieses Ziel auch mehr als hörenswert zu erreichen.


Trauerarbeit in Jazz

Mit dem Projekt „MORTALITY“ ist es dem Gitarristen Tapio Ylinen gelungen, Melodien und Themen, die ihm nach dem zu frühen Tod seiner Frau in den Sinn kamen, mit Freunden aus der finnischen Jazz-Szene in grossartige Arrangements für eine 6-köpfige Mannschaft umzusetzen. Ja, die Themen, 2 von ihnen jeweils als 3 geteilte ‚Suiten‘ enthalten, sind eher traurig melancholisch, aber die Inbrunst, mit der die beteiligten Musiker aus den vorhandenen Miniaturen manchmal fast sakrale Klangwelten schaffen, dabei aber den Jazz nicht aus den Augen verlieren ist beeindruckend. Besonders hervorheben möchte ich hier Trompete und Saxofon (Verneri Pohjola und Pauli Lyytinen), die mit ihrem Spiel, ob gemeinsam oder einzeln als Solisten, die Gefühlswelten eines Trauermarsches mit leuchtender Farbe zu einem Weg in eine positive Zukunft aufzeigen. Herausragend!


Entschleunigt, entkrampft, beruhigt

Und noch eine genauso ungewöhnlich wie schöne CD. ULRIKE HAAGE, allein am Piano auf „Himmelsbaum“. Ruhig, konzentriert und jedem Ton seinen Raum gebend, erschafft sie 9 kleine Werke voller Anmut und Ästhetik. Klar erkennbare Motive, denen die Finger auf den Tasten keinen Schnörkel zu viel anhängen. Bewusst auf den ersten Blick einfach gehalten, atmen die Themen sowohl klassische Momente, als auch Phrasierungen aus Jazz und sogar Pop. Mit wenigen Tönen vermag sie ein vollständiges Bild vom Ankommen, Da sein und Vergehen zu zeichnen. Ohne sentimental oder Kitsch, durchsichtig und nachvollziehbar und dabei gleichzeitig eine Wohltat fürs Ohr. Entschleunigt, entkrampft, beruhigt. Besonders in hysterischer Zeit.


Archivtexte Ohrenschmauch

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