Von Günter, 29.07.2020

SUZIE STAPLETON/ ELIN FURUBOTN/ JACK GRELLE/ LISBOA STRING TRIO/ JOE HAIDER SEXTET

Sommerplatte absolut

Die Ansage ist nicht neu: Wir Menschen, besonders die in den sogenannten Industrie-Nationen, sind gerade fleissig dabei die Nägel in unseren eigenen Sarg zu schlagen. Aber lange nicht mehr so dynamisch, wütend und verzweifelt, wie sie SUZIE STAPLETON auf ihrem „We are the Plague“ vorträgt. Eingeweihte können die Australierin auch vom ‚Jeffry Lee Pierce Project‘ kennen, zu dem sie neben z.B. Iggy, Nick Cave und Mark Lanegan eingeladen wurde. Sie singt mit kräftiger Stimme, auch mal sanft, und spielt Gitarre. Mit Bass, Schlagzeug durchweg und gelegentlich Cello verstärkt streut sie noch etwas Violine und ein wenig Piano ein und manövriert musikalisch überhaupt nicht festgelegt zwischen alternativem Rock, düsterem Blues und beinahe alternativem Folk. Wer ein Ohr für die oben genannten und dazu noch P.J. Harvey und Patti Smith hat, sollte hier nicht drüber hinweg gehen. Kurz vor Endzeit Musik für alle, die nicht nach Leben auf einem anderen Stern schielen.


Sehr viel optimistischer klingt „Blikk“, die neue CD von ELIN FURUBOTN. Sympathische Singer SongwriterIn Musik mit grosser stilistischer Bandbreite. Von Gastsängern über Orchesterbegleitung, von grossem Ensemble zur Trio-Besetzung. Mit klarer Stimme trägt sie ihre fast ausnahmslos selbst geschaffenen Titel vor, inspiriert sowohl von Kollegen aus aller Welt, als auch aus der heimischen Tradition. Leider verstehe ich fast kein Wort norwegisch. Auf „Blikk“ sind nur die ersten 6 Titel wirklich neu, 6 warten schon seit 2006 darauf, das Licht der Welt zu erblicken.

5 Töne pro Oktave sind genug!

Von der nordischen zur amerikanischen Variante Singer/Songwriter. Der Bart ist kürzer geworden seit seinem letzten Album 2016, vielseitig orientiert ist JACK GRELLE nach wie vor. 14 KollegInnen halfen bei der Produktion von „If not forever“. Nicht alle gleichzeitig, aber spezifisch für jeden der Songs. Und die streifen Folk, Country, Rock’n’Roll, Blues und sogar die Swamps von Louisiana. Diverse Gitarren, Streicher, Bläser, alles am richtigen Platz und handwerklich korrekt eingespielt, untermalen die Texte, in denen er seine kritische Haltung zum amerikanischen Traum zum Ausdruck bringt.


LST – LISBOA STRING TRIO habe ich kurz als klassisches Streich-Trio eingeschätzt. Weit gefehlt, mit 2 akustischen Gitarren (1 ‚klassische‘, 1 portugiesische) und Kontrabass zelebrieren sie ihre sehr eigene Variation von Fado trifft Jazz. Das heisst in diesem Fall nicht akrobatische Fingerübungen in Höllentempo, sondern zerlegen von Akkorden und deren Zusammenhang neu erstellen. In 11 Titeln, von denen die drei 7 selbst erfunden haben, treibt es sie gelegentlich näher an die jazzige Improvisation, doch immer wieder auch an den Rand der heimischen Melodieführung. Für 2 dieser traditionelleren Stück auf „Aqui e ali“ holen sie die Sängerinnen Maria Berasarte und Cristina Branco ans Mikrophon, mit denen sie das ansonsten instrumentale Repertoire noch abwechslungsreicher gestalten.

Klassisch romantisch

Ob ‚alter Haudegen‘ eine angemessene Benennung ist, will ich hier nicht diskutieren, aber eine wichtige Figur im deutschen und europäischen Jazz ist JOE HAIDER allemal. Mit immerhin 84 Jahren legt der Pianist ein fulminant swingendes neues Werk vor. Dem Sextett aus 3 Generationen Musikern, Rhythmusgruppe plus 3 Bläser, fliessen die Melodien scheinbar aus den Ärmeln. Ob im Gruppenspiel oder in den solistischen Ausflügen, niemand drängt in den Vordergrund, ausgewogen bringen sie die Kompositionen der verschiedenen Bandmitglieder zum Klingen. Ob flottes Tempo oder beinahe kitschige Ballade (As Time goes by, der Titeltrack)), die 6 Herren zeigen Respekt voreinander und vor allem vor der Melodie. Reifes Alterswerk oder eine weitere bestens gelungene Platte dieses lernenden Lehrers, kann jede/r für sich selbst entscheiden.


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Günter Günter

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