Von Stefan Bergmann, 09.09.2020

Seit über einem halben Jahr schon

Seit über einem halben Jahr schon schlagen wir uns mit diesem Mist herum. Tausende Tote, Millionen Kranke, Abermillionen, die noch kein Covid-19 hatten. Im März, als es begann, waren alle unsicher, was von dem Virus zu halten ist. Politiker, Virologen und auch die „normalen“ Menschen. Deswegen reagierte man lieber harsch, um sich später nicht nachsagen lassen zu müssen, man habe es nicht ernst genommen. Und die, die heute wie blöd zu den Anti-Corona-Demos rennen, saßen damals genauso winselnd vor Angst in ihren Wohnungen und benahmen sich wie ordentliche Bürger. Heute jedoch - sie sind ja nicht gestorben - wissen es einige Zehntausend besser und machen den großen Max. Natürlich erst, nachdem sie sich schlau gemacht haben im Internet. Ich kann es nicht mehr hören: „…recherchier doch mal…!“ Im Internet ein paar Filmchen ungewisser Herkunft anzuschauen, ist keine Recherche. Suchte man ein schönes Wort, könnte man es Ekletizismus nennen: Ich klaube mir zusammen, was in meine Weltsicht passt, und baue mir daraus eine schöne neue Welt ohne Corona. Realistischerweise könnte man eher sagen: Es ist die Suche nach einfachen Antworten für komplexe Fragen, die man mit seinem Wissensstand kaum richtig für sich allein beantworten kann. Teilen der Gegner könnte man allerdings auch einfach sagen: Wie dumm seid Ihr?
Am letzten Wochenende haben Jugendliche eine Party gefeiert. Kommt vor. Ist ja auch erlaubt. Zehn Leute. Am Donnerstag kam raus: Ein Mädchen hat ein positives Corona-Testergebnis. Und schon startet das Dilemma. Was tun? Die anderen neun aus der Schule nehmen? Testen lassen? Sollten auch die Eltern in Quarantäne gehen? Vorsorglich? Rat könnte das Gesundheitsamt geben. Doch da lief Donnerstags um 16 Uhr die Warteschleifenmusik. Nichts zu machen. 34 Infizierte in Münster (Stand Freitag letzter Woche), doch das Gesundheitsamt ist nicht erreichbar. Was machen die wohl, wenn es mal richtig dicke kommt? Dann zeigt ein Mädchen Symptome. Husten. Test beim Arzt. Doch das Ergebnis lässt auf sich warten. Noch immer. Ein zweites Mädchen mit Symptomen. Sie geht ins Krankenhaus. Wird wieder nach Hause geschickt. Der Schulleiter schreibt - immerhin - besonnene Mails an die gesamte Oberstufe.
Was zeigt uns diese kleine Geschichte? Noch immer nicht, nach einem halben Jahr, weiß man so recht, wie man mit Infektionen oder möglichen Infektionen umgehen soll. Im Hinterkopf hat man die italienischen Verhältnisse vom Frühling mit Tausenden Toten als das eine Extrem. Auf der anderen Seite infizieren sich noch nicht einmal alle Mitglieder einer Familie, wenn einer es einschleppt. Die Gründe sind unbekannt.
Wir müssen noch viel lernen. Und die Behörden auch.

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