Von Stefan Bergmann, 15.06.2022

Das Bistum...

... hatte es schon im April geahnt: "Das Leid ist erschütternd", hieß es bei der Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch durch Priester. Am Montag nun wurde die gesamte Dimension deutlich: Mehr als 600 meist jugendliche Opfer oder auch Kinder in den Jahren zwischen 1950 und 2007, fast 5000 Taten. 200 Täter. In keinem Dekanat des Bistums habe es keine Fälle gegeben. Das Leid, dass Priester über Menschen brachten, ist unermesslich. Es habe ein massives Kontroll- und Leitungsversagen gegeben, so der Gutachter Thomas Großbölting. Das habe es Mehrfachtätern ermöglicht, Kinder jahrelang zu missbrauchen.

Dieses Gutachten, vorgestellt von der Uni Münster, ist nicht weniger als eine moralische Bankrotterklärung der damals in der Kirche handelnden Personen: Täter, Mittäter, Dulder, Weggucker. Und damit auch der Kirche als solches

Und auch das gehört zur Wahrheit dazu: Bischof Reinhard Lettmann, von 1980 bis 2008 äußerst beliebter Oberhirte des Bistums Münster, rückt als moralisch Hauptverantwortlicher in den Fokus. Dieses Gutachten der Schande zerstört vollends seinen guten Ruf, den er zu Lebzeiten hatte, aber auch nach seinem Tode noch.

Bischof Genn, sein Nachfolger, musste sich lange an ihm messen lassen. Mit dem Wissen von heute absurd. Denn erst mit dem Bischofs-Wechsel begann laut Gutachtern die Zeit der echten Aufklärung. Doch auch Genn steht - am Rande - in der Kritik. In seinen ersten Amtsjahren sei er "reuigen" Sündern nicht mit der entsprechenden Härte begegnet.

Wie soll eine Organisation, die seit zwei Jahrtausenden ihre Autorität vor allem aus Gottes Liebe und einer hohen Ethik nährt, mit einem solchen Gutachten, dass das Gegenteil von dem beweist, was gepredigt wird, umgehen? Wie will sie den Exodus der katholischen Kirchenmitglieder stoppen?

Wird es in Münster bald Zustände wie im Bistum Köln geben, wo Kirchenaustrittstermine beim Amtsgericht auf Monate im Voraus ausgebucht sind? Bischof Genn macht (inzwischen) das einzig Richtige: Schonungslose Transparenz und Offenheit. Er hat das vernichtende Gutachten nicht unter Verschluss gehalten wie sein Kölner Amtskollege. Er benennt Taten und Täter und gesteht Schuld ein.

Doch es müssen auch Konsequenzen folgen: 50 der Täter von damals leben noch. Eventuell sind ihre Taten juristisch verjährt. Aber moralisch nicht. Ein normaler Staatsbeamter, wenn er sich gravierend etwas zuschulden kommen lässt, wird verurteilt, entlassen, seine Pension gestrichen. Da ist der Staat sehr konsequent. Warum nicht auch die Kirche?

Ich habe in diesem Presseausweis sehr oft das Wort "Moral" verwendet. Vielleicht zu oft. Doch darum geht es: Die Kirche muss sich an ihrer eigenen Moral messen lassen. Sie hat versagt. Sie sollte mit ihren Urteilen über Menschen mit nicht genehmen Lebensweisen in Zukunft sehr vorsichtig sein. - Stefan Bergmann

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