Von , 09.01.2013

Jakob Augstein hat eine gebildete und gefühlvolle Kolumne zum Jahr der Bundestagswahl geschrieben. "Wählen Sie Gerechtigkeit!" fordert er in der Überschrift zu seinem Text, den er um eine Kinderfrage rankt: "Warum werden die Reichen reicher und die Armen ärmer?" Gute Frage: Reiche werden reicher und Arme ärmer, weil den Menschen systematisch das Gefühl für den Sinn eines Mittelmaßes ausgetrieben wird. Peer Steinbrück bringt die maßlose Haltung auf den Punkt. Die Bundeskanzlerin verdiene zu wenig, argumentiert er, wenn jeder Sparkassendirektor in NRW mehr verdient als sie. Ein aufgewecktes Kind könnte den Kanzler-Kandidaten fragen, warum er sein Argument nicht einfach umdreht, zu der Feststellung, dass die Sparkassendirektoren in NRW viel zu viel verdienen.
Vom kindlich schlichten Gefühl für verdrehte Argumente hat sich Peer Steinbrück während seiner Sozialisation im Politikbetrieb emanzipiert. Die, denen er täglich die Hand schüttelt, denken wie er, deshalb ist er einer von ihnen und wird als VIP von den Stadtwerken Bochum zu einem small talk geladen. 25.000 EUR, die sein Auftritt gekostet hat, wurden auf den Strompreis aufgeschlagen.
Ich erspare mir an dieser Stelle die Recherche, wie die Direktoren der Stadtwerke in NRW bezahlt werden und bitte im Gegenzug darum, von der dummen Phrase verschont zu bleiben, ich würde eine Neid-Diskussion anzetteln wollen. Weder neide ich Markus Schabel, dem Vorstandschef der Sparkasse Münsterland Ost, seine 593.000 EUR Jahresgehalt noch Peer Steinbrück seine 25.000 EUR pro Stunde. Nur wenn jemand ab einem Jahresgehalt von 240.000 EUR aufwärts vergeblich nach Gründen sucht, warum es in einer der reichsten Industriegesellschaften der Welt unmöglich sein soll, einen Mindestlohn von 8,50 EUR (brutto!) zu zahlen, dann erlaube ich mir den Hinweis, dass oben zu viel raus genommen wird. Die Direktoren sind ja nur die Spitze des Eisbergs. Darunter gibt es Kaskaden von Aufstrebern, die die Fortschreibung des maßlosen Systems garantieren. Darüber werden ungezählte Ex-Direktoren auch aus Steuerzahlungen allein erziehender Mütter mit unanständig hohen Ruhegehältern bedient.
Was können wir - die breite Mehrheit in der Mitte der Gesellschaft - die den Wahnsinn am oberen Ende und die Existenzsicherung für unterbezahlte Gesellschaftsmitglieder am unteren Ende mit erarbeiten müssen, was können wir kurzfristig tun? Auch in unserer Gesellschaft das durchsetzen, was Obama in Amerika versucht: konsequente, höhere Besteuerung der Einkommen jenseits der 240.000 EUR. Einen gesetzlichen Mindestlohn gibt es in den USA schon seit 74 (!) Jahren, seine Einführung in Deutschland ist überfällig. Angela Merkel in Koalition mit der FDP hat beide Eckpunkte einer gerechteren Gesellschaft nicht auf ihrer Agenda.
Wir - eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler aus der gesellschaftlichen Mitte - sollten mit rot/grün einen neuen Anlauf machen. Dass Peer Steinbrück diese Koalition anführt muss kein Nachteil sein, weil es bei der anstehenden Arbeit nicht darauf ankommt, sich in den Beliebtheitswerten zu sonnen sondern in unserem Interesse die gesteckten Ziele auch tatsächlich zu erreichen. - Arno Tilsner

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