Von , 17.04.2013

Wie man die Europäische Union vor der Eurokrise retten kann (George Soros)

George Soros im Center for Financial Studies der Goethe-Universität Frankfurt am 9. April 2013.

Als Kind jüdischer Eltern überlebte der heute 82jährige George Soros den Einmarsch der Nazis in Budapest auch deshalb, weil hingucken, für wahr nehmen und das Schlimmste für möglich halten in seiner Familie ein hohes Gut waren. Wahrnehmen, weiter denken, entscheiden sind in seinem Leben wesentliche Eckpunkte geblieben. Wenn er Frau Merkel im 5. Jahr nach der verheerenden Lehman Pleite und im 4. Jahr seit Beginn der Euro-Krise beim Klein-Reden und 'bis zum nächsten Gipfel vertagen' zusieht schrillen bei dem alten Herrn alle Alarmglocken. Deshalb ist er zu Dienstag letzter Woche über den großen Teich gekommen, um den Deutschen seine Sicht der Dinge persönlich vorzutragen. Unterlegt sind seine Worte mit dem Gewicht von geschätzten 22 Milliarden Dollar, die er in dem System erwirtschaftet hat, über das er in Frankfurt referiert. Sein Vortrag an der Goethe-Universität beinhaltet eine sehr kompakte und konkrete Schilderung dessen, was aus seiner Sicht in Europa auf dem Spiel und zur Wahl steht. Deshalb drucken wir ihn hier in deutscher Übersetzung ab. Es ist nach unserer Meinung ein wichtiger Beitrag zu einer längst überfälligen Diskussion. - Arno Tilsner


Georg Soros
Wie man die Europäische Union vor der Eurokrise retten kann

Ich bin heute hier, um über die Eurokrise zu sprechen. Sie werden mir, glaube ich, alle zustimmen, dass die Krise noch lange nicht ausgestanden ist. Sie hat bereits finanziell wie politisch enorme Schäden verursacht sowie erheblichen menschlichen Tribut gefordert. Sie hat die Europäische Union in etwas radikal anderes verwandelt als ursprünglich beabsichtigt. Die Europäische Union war als freiwillige Vereinigung gleichberechtigter Staaten gedacht, doch die Krise hat sie in eine Gläubiger-Schuldner-Beziehung verwandelt, aus der es so leicht kein Entkommen gibt. Die Gläubiger drohen hohe Summen zu verlieren, sollte ein Mitgliedstaat die Union verlassen, doch die Schuldner werden einer Politik unterworfen, die die Depression, in der sie sich befinden, vertieft, ihre Schuldenlast verschlimmert und ihre untergeordnete Position zum Dauerzustand macht.
Dies hat politische Spannungen hervorgerufen, wie sie durch das Patt in Italien demonstriert werden. Eine Mehrheit ist inzwischen gegen den Euro, ein Trend, der sich weiter verstärkt. Es besteht die reale Gefahr, dass die Eurokrise die Europäische Union zerstören wird. Ein ungeordnetes Auseinanderbrechen würde Europa in schlechterem Zustand hinterlassen als jenem, in dem es sich vor Beginn des kühnen Experiments der Schaffung einer Europäischen Union befand. Dies wäre eine Tragödie von historischem Ausmaß. Sie lässt sich verhindern, aber nur mittels deutscher Führung. Deutschland hat keine dominante Stellung angestrebt und zögert bisher, die damit einhergehenden Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen zu akzeptieren. Dies ist einer der Gründe für die Krise. Aber ob es das will oder nicht: Deutschland sitzt am Lenker, und das ist es, was mich hierher führt.
Was hat die Krise verursacht? Und wie kann sich Europa daraus befreien? Dies sind die beiden Fragen, die ich beantworten möchte. Die erste Frage ist äußerst kompliziert. Die Eurokrise hat sowohl eine politische wie eine finanzielle Dimension. Und die finanzielle Dimension hat mindestens drei Bestandteile: eine staatliche Schuldenkrise und eine Bankenkrise sowie Unterschiede bei der Wettbewerbsfähigkeit. Die verschiedenen Aspekte greifen ineinander, was die Situation so kompliziert macht, dass es einen überwältigt. Aus meiner Sicht lässt sie sich nur dann wirklich verstehen, wenn man sich die entscheidende Rolle bewusst macht, die Fehler und falsche Vorstellungen bei ihrer Schaffung gespielt haben. Die Krise ist fast völlig selbst beigebracht. Sie hat die Qualität eines Alptraums.
Die Antwort auf die zweite Frage ist dagegen äußerst einfach. Sobald wir die Probleme richtig verstanden haben, bietet sich die Lösung praktisch von selbst an.
Ich weise einen großen Teil der Verantwortung Deutschland zu. Aber ich möchte vorab klarstellen, dass ich Deutschland hierfür keine Schuld gebe. Wer immer die Verantwortung gehabt hätte, hätte ähnliche Fehler begangen. Ich kann aus persönlicher Erfahrung sagen, dass niemand die Probleme in all ihrer Komplexität zum Zeitpunkt ihres Entstehens verstanden hätte.
Ich bin mir bewusst, dass ich Gefahr laufe, Sie zu verärgern, indem ich Deutschland die Verantwortung zuweise. Aber nur Deutschland kann die Dinge in Ordnung bringen. Ich bin ein großer Anhänger der Europäischen Union und möchte sie nicht zerstört sehen. Mich bedrückt zudem das enorme, und unnötige, Maß an menschlichem Leid, das die Krise verursacht, und ich möchte alles mir Mögliche tun, um dieses zu lindern. Meine Sicht unterscheidet sich stark von den in Deutschland vorherrschenden Ansichten. Indem ich Ihnen eine andere Interpretation anbiete, hoffe ich, Sie zu bewegen, Ihre Politik zu überdenken, bevor sie weiteren Schaden anrichtet. Dies ist das Ziel, das mich hierher geführt hat.

Die Europäische Union war ein kühnes Projekt, das die Fantasie vieler Menschen befeuerte, darunter auch meine. Ich betrachtete die Europäische Union als die Verkörperung einer offenen Gesellschaft – eine freiwillige Assoziation gleichberechtigter Staaten, die einen Teil ihrer Souveränität für das gemeinsame Wohl aufgaben. Die Europäische Union umfasste fünf große und eine Anzahl kleinerer Mitgliedsstaaten, und sie alle machten sich die Grundsätze von Demokratie, individueller Freiheit, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu Eigen. Keine Nation oder Nationalität hatte eine vorherrschende Position inne.
Der Integrationsprozess wurde von einer kleinen Gruppe weitsichtiger Staatsmänner angeführt, die erkannten, dass Perfektion unerreichbar war, und die praktizierten, was Karl Popper als „Sozialtechnik der kleinen Schritte“ bezeichnet hat. Sie setzten sich begrenzte Ziele und feste Zeitpläne und mobilisierten dann den politischen Willen zu einem kleinen Schritt nach vorn – wobei ihnen völlig klar war, dass, wenn sie diesen getan hätten, er sich als unzulänglich erweisen und einen weiteren Schritt erforderlich machen würde. Der Prozess zehrte von seinem eigenen Erfolg, ganz ähnlich einer Boom-Bust-Sequenz an den Finanzmärkten. Auf diese Weise verwandelte sich die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl allmählich zur Europäischen Union – Schritt für Schritt.
Frankreich und Deutschland standen einst an vorderster Front dieser Bemühungen. Als der Zerfall des Sowjetreichs einsetzte, erkannte die deutsche Führung, dass eine Wiedervereinigung nur im Kontext eines stärker geeinten Europas möglich sein würde, und sie war gewillt, beträchtliche Opfer zu bringen, um sie herbeizuführen. Bei Verhandlungen war sie bereit, etwas mehr zu geben und etwas weniger zu nehmen als andere, und erleichterte so eine Einigung. Damals verkündeten deutsche Staatsmänner, dass Deutschland keine unabhängige Außenpolitik hätte, sondern nur eine europäische. Dies führte zu einer drastischen Beschleunigung des Prozesses, der in der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 und der Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht 1992 gipfelte. Es folgte eine Phase der Konsolidierung, die bis zur Finanzkrise von 2007/08 dauerte.
Leider hatte der Vertrag von Maastricht grundlegende Fehler. Den Architekten des Euro war bewusst, dass er ein unvollständiges Konstrukt war: eine Währungsunion ohne eine politische Union. Sie hatten jedoch Grund zu der Annahme, dass sich, wenn sich die Notwendigkeit ergäbe, der politische Wille mobilisieren lassen würde, den nächsten Schritt zu tun. Schließlich hatte der Integrationsprozess bis dahin auf diese Weise funktioniert.
Der Euro hatte jedoch viele weitere Mängel, die unerkannt blieben. So nahm der Vertrag von Maastricht als gegeben an, dass nur der öffentliche Sektor chronische Defizite produzieren könne, weil der private Sektor seine eigenen Exzesse immer korrigieren würde. Die Finanzkrise von 2007/08 bewies, dass das nicht stimmt. Der fatale Fehler des Euro war, dass sich die Mitgliedstaaten durch Schaffung einer unabhängigen Zentralbank in einer Währung verschuldeten, die sich nicht kontrollierten. Dies setzte sie einem Ausfallrisiko aus.
Für entwickelte Länder außerhalb einer Währungsunion besteht kein Ausfallgrund, weil sie immer Geld drucken können. Ihre Währung mag abwerten, doch das Risiko eines Zahlungsausfalls erwächst nicht. Für Dritte-Welt-Länder dagegen, die Kredite in einer Fremdwährung wie dem Dollar aufnehmen müssen, besteht ein Ausfallrisiko. Verschlimmert wird dies noch dadurch, dass derartige Länder Baisse-Manövern ausgesetzt sind. Kurz gesagt: Das Ausfallrisiko degradierte die Teile der Eurozone, die jetzt als Peripherie bezeichnet werden, auf den Status von Dritte-Welt-Ländern.
Vor der Finanzkrise von 2007/08 hatten Behörden und Finanzmärkte dieses Merkmal des Euro ignoriert. Als der Euro eingeführt wurde, wurden Staatsanleihen als risikolose Anlagen behandelt. Die Aufsichtsbehörden verpflichteten die Geschäftsbanken nicht, Eigenkapital zur Seite zu legen, und die Europäische Zentralbank diskontierte alle Staatsanleihen zu gleichen Bedingungen. Dies schuf einen Fehlanreiz für die Geschäftsbanken, sich mit Anleihen der schwächeren Mitgliedsländer einzudecken, um ein paar Basispunkte mehr zu verdienen. Dadurch verschwanden Zinsunterschiede praktisch völlig.
Die Konvergenz der Zinssätze führte zu einer Divergenz der Wirtschaftsleistung. Die sogenannten Peripherieländer, insbesondere Spanien und Irland, erlebten einen Immobilien-, Investment- und Konsumboom, der sie weniger wettbewerbsfähig machte, während das durch die Kosten der Wiedervereinigung belastete Deutschland weitreichende Arbeitsmarkt- und sonstige Strukturreformen einleitete, die es wettbewerbsfähiger machten.
In der Woche nach dem Konkurs von Lehman Brothers brachen die globalen Finanzmärkte buchstäblich zusammen, und es mussten lebenserhaltende Maßnahmen für sie eingeleitet werden. Dabei mussten die Kredite der Finanzinstitute, deren Standing beschädigt war, durch mit dem Geld der Steuerzahler unterlegte staatliche Kredite ersetzt werden.
Dies wäre der Moment gewesen, um den nächsten Schritt voran in Richtung einer Fiskalunion und einer politischen Union zu unternehmen, aber es fehlte der politische Wille. Das durch die Kosten der Wiedervereinigung belastete Deutschland stand nicht länger an vorderster Front der Integration. Bundeskanzlerin Merkel las die öffentliche Meinung richtig, als sie erklärte, dass sich jedes Land selbst um seine Finanzinstitute kümmern sollte – und nicht die Europäische Union gemeinsam. Im Rückblick war dies der erste Schritt eines Desintegrationsprozesses.
Es dauerte mehr als ein Jahr, bis die Finanzmärkte die Implikationen von Kanzlerin Merkels Erklärung realisierten, was ein Beleg dafür ist, dass auch sie auf einer alles andere als perfekten Wissensgrundlage operieren. Erst Ende 2009, als das Ausmaß des griechischen Defizits deutlich wurde, wurde den Märkten klar, dass ein Euroland tatsächlich als Schuldner ausfallen könnte. Dann aber erhöhten sie die Risikoaufschläge aller schwächeren Länder vehement. Damit waren Geschäftsbanken, deren Bilanzen mit diesen Anleihen aufgeladen waren, potenziell insolvent, und dies führte sowohl eine staatliche Schuldenkrise als auch eine Bankenkrise herbei – beide sind verknüpft wie siamesische Zwillinge.

Es gibt eine enge Parallele zwischen der Eurokrise und der internationalen Bankenkrise von 1982. Damals retteten der IWF und die internationalen Bankenbehörden das internationale Bankensystem, indem sie den schwer verschuldeten Ländern gerade genug Geld liehen, sodass diese einen Zahlungsausfall vermeiden konnten. Der Preis war freilich, dass diese Länder in eine langfristige Depression gedrückt wurden. Lateinamerika erlitt ein verlorenes Jahrzehnt.
Heute spielt Deutschland dieselbe Rolle wie damals der IWF. Die Umstände sind andere, aber die Wirkung ist die gleiche. Die Gläubiger bürden den Schuldnerländern faktisch alle Anpassungslasten auf. Bitte beachten Sie, wie sich nahezu unbemerkt die Begriffe „Zentrum“ und „Peripherie“ in den Sprachgebrauch eingeschlichen haben, obwohl es in politischer Hinsicht offensichtlich unangemessen ist, Italien und Spanien als Peripherie der Europäischen Union zu bezeichnen. Praktisch jedoch hat der Euro sie in in einer Fremdwährung überschuldete Dritte-Welt-Länder verwandelt.
Genau wie in den 1980er Jahren entfallen alle Schuldzuweisungen und Lasten auf die „Peripherie“, und die Verantwortung des „Zentrums“ bleibt uneingestanden. Man kritisiert die Peripherieländer wegen ihrer mangelnden Haushaltsdisziplin und Arbeitsethik, aber es steckt mehr hinter der Sache. Zugegeben, die Peripherieländer müssen Strukturreformen umsetzen, so wie es Deutschland nach der Wiedervereinigung tat. Doch zu bestreiten, dass der Euro selbst strukturelle Probleme aufweist, die man beheben muss, heißt, die Grundursache der Eurokrise zu ignorieren. Genau das aber geschieht.
In diesem Zusammenhang spielt das deutsche Wort „Schuld“ eine Schlüsselrolle. Wie Sie wissen, bezeichnet es sowohl eine Verbindlichkeit als auch die Verantwortung für ein Fehlverhalten. Dies macht es für die öffentliche Meinung in Deutschland selbstverständlich, die schwer verschuldeten Länder für ihr Unglück verantwortlich zu machen. Die unverfrorenen Regelverstöße Griechenlands stützen diese Haltung. Andere Länder wie Spanien und Irland jedoch hielten sich an die Regeln, und Spanien galt sogar als Muster an Tugend. Die Fehler liegen ganz klar im System, und das Unglück der schwer verschuldeten Länder wurde großteils durch die für den Euro geltenden Regeln verursacht. Das ist der Punkt, den ich heute unmissverständlich klarstellen möchte.
Meiner Meinung liegt die „Schuld“ heute noch viel stärker beim „Zentrum“ als während der Bankenkrise von 1982. Es mag 1982 politisch akzeptabel gewesen sein, weniger entwickelte Länder zur Austerität zu zwingen, um das internationale Finanzsystem zu retten, doch dasselbe innerhalb der Eurozone zu tun, ist mit der Vorstellung der Europäischen Union als freiwillige Assoziation gleichberechtigter Staaten unvereinbar. Es besteht ein ungelöster Konflikt zwischen dem Diktat finanzieller Notwendigkeit und dem, was politisch akzeptabel ist. Dies müsste nach den jüngsten italienischen Wahlen klar sein.
Die Last der Verantwortung für den Vertrag von Maastricht fällt überwiegend Frankreich und Deutschland zu, und jene für den Lauf der Ereignisse seit Ausbruch der Krise Deutschland allein, weil die Krise Deutschland ans Steuer gebracht hat. Dies hat zwei Probleme geschaffen: ein politisches Problem und ein Finanzproblem. Es ist die Kombination der beiden, die die Situation so vertrackt macht.
Das politische Problem ist, dass Deutschland die dominante Position, in die es geworfen wurde, nicht gewollt hat und nicht bereit ist, die damit einhergehenden Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen zu übernehmen. Deutschland möchte verständlicherweise nicht als „tiefe Tasche“ für den Euro herhalten. Darum gewährt es gerade genug Unterstützung, um Zahlungsausfälle zu vermeiden, aber nicht mehr, und sobald der Druck der Finanzmärkte nachlässt, ist es bestrebt, die Bedingungen zu verschärfen, unter denen diese Unterstützung gewährt wird.
Das Finanzproblem ist, dass Deutschland der Eurozone die falsche Politik aufzwingt. Austerität funktioniert nicht. Sie können die Schuldenlast nicht durch Verkleinerung des Haushaltsdefizits reduzieren. Die Schuldenlast ist das Verhältnis zwischen nominalen Schulden und nominalem BIP. Und bei einer unzureichenden Nachfrage verursachen Haushaltseinschnitte einen überproportionalen Rückgang des BIP – in der Fachsprache sagt man, der fiskalische Multiplikator ist größer als eins.
Die deutsche Öffentlichkeit findet dies schwer verständlich. Die von der Regierung Schröder durchgeführten Haushalts- und Strukturreformen haben 2006 funktioniert; warum sollten sie für die Eurozone ein paar Jahre später nicht funktionieren? Die Antwort ist, dass Austerität in einem einzelnen Land durch Steigerung der Exporte und Verringerung der Importe dieses Landes funktioniert. Wenn alle dasselbe machen, klappt das einfach nicht: Es ist schlicht nicht möglich, dass alle Mitglieder der Eurozone ihre Handelsbilanzen miteinander verbessern.

Die Eurokrise erreichte im vergangenen Sommer einen Höhepunkt. Die Finanzmärkte begannen, ein mögliches Auseinanderbrechen zu antizipieren, und die Risikoaufschläge erreichten untragbare Höhen. Als letztes Mittel unterstützte Kanzlerin Merkel den Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, gegen ihren eigenen Kandidaten, Jens Weidmann. Und Draghi zeigte sich der Lage gewachsen. Er erklärte, die EZB würde tun, „was immer erforderlich ist“, um den Euro zu schützen, und stellte dies durch Einführung zunächst von längerfristigen Refinanzierungsgeschäften (LTRO) und dann von Offenmarktgeschäften (OMT) unter Beweis. Die Finanzmärkte waren beruhigt und begannen eine gewaltige Erholungsrally. Aber der Jubel war verfrüht. Sobald der Druck der Finanzmärkte nachließ, begann Deutschland, die Versprechen, die es auf dem Höhepunkt der Krise gemacht hatte, abzuschwächen.
Bei der Rettung Zyperns ist Deutschland zu weit gegangen. Um die Kosten der Rettungsaktion zu minimieren, beharrte es auf der Beteiligung der Einleger. Dies war verfrüht. Nach Einrichtung einer Bankenunion und der Rekapitalisierung der Banken wäre es vielleicht eine gesunde Reform gewesen. Doch es erfolgte zu einer Zeit, in der das Bankensystem gerade in nationale Silostrukturen zerbrach und weiterhin sehr anfällig war. Was in Zypern passierte, untergrub das Geschäftsmodell der europäischen Banken, das in hohem Maße auf Einlagen beruht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Behörden keine Mühe gescheut, die Einleger zu schützen. Zypern änderte dies. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich derzeit auf die verheerenden Auswirkungen der Rettung auf Zypern, doch viel wichtiger sind die Auswirkungen auf das Bankensystem. Die Banken werden künftig Risikoaufschläge zahlen müssen, die schwächere Banken und Banken schwächerer Länder sehr viel stärker treffen werden. Die tückische Verbindung zwischen den Kosten von Staatsverschuldung und Bankenschulden wird gestärkt, und eine Bankenunion, die wieder eine Angleichung des Wettbewerbsumfeldes herbeiführen würde, ist nun schwieriger geworden. Ohne gleichberechtigten Zugriff auf Kredite können die Peripherieländer der Falle, in der sie gefangen sind, unmöglich entkommen.
Kanzlerin Merkel hätte die Eurokrise gern bis mindestens nach den Wahlen auf Eis gelegt, doch diese hat sich mit aller Kraft zurückgemeldet. Der deutschen Öffentlichkeit mag dies nicht bewusst sein, weil Zypern ein enormer politischer Sieg für Merkel war. Kein Land wird es wagen, ihren Willen herauszufordern. Zudem ist Deutschland von der sich vertiefenden Depression, die die Eurozone umfasst, bisher relativ wenig betroffen. Ich erwarte freilich, dass Deutschland bis zum Wahltag ebenfalls in der Rezession stecken wird. Der Grund dafür ist, dass die von der Eurozone verfolgte Geldpolitik nicht mit der der anderen wichtigen Währungen im Einklang steht. Die anderen betreiben eine quantitative Lockerung. Die Bank von Japan war die letzte Bastion, aber sie hat kürzlich die Seiten gewechselt. Ein schwächerer Yen wird im Verbund mit der Schwäche in Europa die deutschen Exporte zwangsläufig beeinträchtigen.

Falls meine Analyse korrekt ist, bietet sich die Lösung praktisch von selbst an. Sie lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Eurobonds. Würde man jenen Ländern, die den Fiskalpakt einhalten, gestatten, alle ihre bestehenden Staatsanleihen in Eurobonds umzuwandeln – ohne sie freilich dazu zu verpflichten –, wäre die positive Wirkung kaum weniger als wunderbar. Die Gefahr von Zahlungsausfällen würde verschwinden, und dasselbe gilt für die Risikoaufschläge. Die Bilanzen der Banken würden einen unmittelbaren Schub erhalten, und Gleiches gilt für die Haushalte der schwer verschuldeten Länder, weil es diese weniger kosten würde, ihre bestehenden Staatsanleihen zu bedienen. Italien etwa würde bis zu vier Prozent seines BIP sparen. Es hätte damit einen Haushaltsüberschuss, und statt eine Austeritätspolitik verfolgen zu müssen, hätte es Spielraum für Steuerimpulse. Die Konjunktur würde anziehen, und die Schuldenquote würde sinken. Die meisten der scheinbar unlösbaren Probleme würden sich in Luft auflösen. Nur die Unterschiede bei der Wettbewerbsfähigkeit blieben ungelöst. Einzelne Länder würden immer noch Strukturreformen benötigen, aber der wichtigste strukturelle Defekt des Euro wäre behoben. Es wäre wahrhaftig, als würde man aus einem Alptraum erwachen.
Deutschland lehnt Eurobonds mit der Begründung ab, dass sich, wenn diese erst einmal eingeführt sind, nicht gewährleisten lasse, dass die sogenannten Peripherieländer die Regeln nicht erneut brächen. Ich halte diese Befürchtungen für verfehlt. Den Mitgliedsländern wäre die Ausgabe neuer Eurobonds im Rahmen des Fiskalpaktes nur gestattet, um fällig werdende zu ersetzen, und nach fünf Jahren hätte man die ausstehenden Schulden allmählich auf 60% vom BIP zurückgeführt. Ein Mitgliedsland, das zusätzliche Schulden machen würde, müsste diese in seinem eigenen Namen aufnehmen. Der Zwang zur Zahlung hoher Risikoaufschläge wäre ein starker Anreiz, die Regeln einzuhalten. Zugegeben, der Fiskalpakt bedarf einiger Änderungen, um sicherzustellen, dass die Strafen für Regelverstöße automatisch und zeitnah erfolgten und nicht zu schwerwiegend wären, um glaubwürdig zu sein. Doch ein strengerer Fiskalpakt würde das Risiko von Zahlungsausfällen praktisch ausschalten.
Eurobonds stünden im Vergleich zu den Anleihen der USA, Großbritanniens und Japans an den Finanzmärkten gut da. Zwar müsste Deutschland höhere Zinsen auf seine eigenen Schulden zahlen als heute, doch sind die außergewöhnlich niedrigen Renditen von Bundesanleihen ein Symptom der Krankheit, die die Peripherie heimsucht. Der indirekte Nutzen, den Deutschland aus der Erholung der Peripherie zöge, würde die zusätzlichen Kosten, die ihm in Bezug auf seine eigene Staatsschuld entstünden, deutlich überwiegen.
Es gibt außerdem weit verbreitete Befürchtungen, dass Eurobonds Deutschlands Kreditrating ruinieren würden. Eurobonds werden häufig mit dem Marshallplan verglichen. Dabei wird argumentiert, dass der Marshallplan Amerikas BIP nur ein paar Prozentpunkte kostete, während Eurobonds ein Vielfaches des deutschen BIP kosten würden. Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Der Marshallplan war eine echte Ausgabe, während Eurobonds eine Garantie umfassen würden, die nie in Anspruch genommen werden wird.
Garantien haben eine merkwürdige Eigenschaft: Je überzeugender sie sind, desto unwahrscheinlicher ist, dass sie in Anspruch genommen werden. Die USA mussten die bei der Umwandlung der Schulden der Einzelstaaten in US-Bundesobligationen übernommen Verbindlichkeiten nie zurückzahlen. Deutschland war bisher nur bereit, das Minimum zu tun; dies ist der Grund, warum es seine Verpflichtungen immer weiter erhöhen musste und warum ihm tatsächliche Verluste entstehen.
Eurobonds sind sicher kein Allheilmittel. Der von Eurobonds ausgehende Schub reicht möglicherweise nicht aus, um eine Konjunkturerholung zu gewährleisten. Vielleicht bedarf es zusätzlicher fiskal- bzw. geldpolitischer Impulse. Doch das wäre ein Luxusproblem. Bedenklicher ist, dass Eurobonds die Unterschiede bei der Wettbewerbsfähigkeit nicht beseitigen. Einzelne Länder müssten nach wie vor Strukturreformen durchführen. Diejenigen, die das nicht täten, würden sich dauerhaft in Inseln der Armut und der Abhängigkeit verwandeln, ähnlich jenen, die in vielen reichen Ländern fortbestehen. Sie würden anhand begrenzter Unterstützung durch europäische Strukturfonds und durch Geldsendungen überleben. Die Europäische Union würde außerdem eine Bankenunion brauchen, um in jedem Land Kredite zu gleichen Bedingungen verfügbar zu machen. Die Rettung Zyperns verschärft diese Notwendigkeit, indem sie das Wettbewerbsumfeld weiter verzerrt. Doch wenn Deutschland Eurobonds akzeptierte, würde das die politische Atmosphäre völlig verändern und die nötigen Reformen erleichtern.
Leider lehnt Deutschland Eurobonds entschieden ab. Seit dem Veto von Bundeskanzlerin Merkel gegen Eurobonds wurden die Argumente, die ich hier vorgetragen habe, noch nicht einmal in Betracht gezogen. Die Leute erkennen nicht, dass die Zustimmung zu Eurobonds viel weniger kosten würde, als nur das Minimum zur Bewahrung des Euro zu tun.
Es liegt bei Deutschland, ob es bereit ist, Eurobonds zu autorisieren oder nicht. Doch hat Deutschland kein Recht, die schwer verschuldeten Länder zu hindern, ihrem Elend zu entgehen, indem sie sich zusammentun und Eurobonds ausgeben. Anders ausgedrückt: Falls Deutschland keine Eurobonds will, sollte es in Betracht ziehen, den Euro zu verlassen, und die anderen Länder Eurobonds einführen lassen.
Dabei würde ein überraschendes Ergebnis herauskommen: Von einer Eurozone ohne Deutschland ausgegebene Eurobonds würden im Vergleich zu denen der USA, Großbritanniens und Japans immer noch gut dastehen. Die Nettoverschuldung dieser drei Länder als Anteil ihres BIP ist tatsächlich höher als die der Eurozone ohne Deutschland.
Lassen Sie mich den Grund hierfür erklären. Da alle bestehenden Schulden auf Euro lauten, ist entscheidend, welches Land beim Euro bestimmend bleibt. Bei einem Ausstieg Deutschlands würde der Euro abwerten. Die Schuldnerländer würden ihre Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen. Ihre Schulden würden sich real verringern, und mit der Ausgabe von Eurobonds würde die Gefahr von Zahlungsausfällen verschwinden. Die Schuldenstände dieser Länder wären damit plötzlich zu bewältigen. Die größten Lasten der Anpassung würden auf die Länder entfallen, die den Euro verlassen. Ihre Exporte würden an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, und sie würden auf ihren Heimatmärkten auf starke Konkurrenz aus dem Euroraum treffen. Sie müssten zudem Verluste bei ihren auf Euro lautenden Forderungen und Kapitalanlagen hinnehmen, darunter auch der Target2-Salden, sofern die Verluste nicht im Rahmen einer gütlichen Trennung geteilt würden.
Das Maß der Verluste würde vom Maß der Abwertung abhängen; daher hätten sie ein Interesse daran, die Abwertung in Grenzen zu halten. Nach anfänglichen Verzerrungen würde das letztliche Ergebnis John Maynard Keynes’ Traum von einem internationalen Währungssystem erfüllen, in dem Gläubiger und Schuldner die Verantwortung für die Wahrung von Stabilität gemeinsam wahrnehmen. Und Europa würde der sich abzeichnenden Depression entgehen.
Wenn im Gegensatz dazu Italien den Euro verließe, würde seine auf Euro lautende Schuldenlast untragbar, und Italien müsste restrukturiert werden. Dies würde das übrige Europa und die restliche Welt in eine unkontrollierbare Finanzkrise stürzen. Der Zusammenbruch des Euro würde vermutlich zu einem ungeordneten Zerfall der Europäischen Union führen, und Europa stünde dann schlechter da als zu Beginn des noblen Experiments der Schaffung einer Europäischen Union. Falls also jemand den Euro verlässt, sollte es Deutschland sein, nicht Italien.
Es spricht viel dafür, dass Deutschland eine endgültige Entscheidung treffen sollte, ob es Eurobonds zustimmt oder den Euro verlässt. Dies aufzuzeigen ist der Grund meines Hierseins. Das Problem ist, dass Deutschland bisher nicht vor diese Wahl gestellt wurde und dass es über eine weitere Alternative verfügt: Es kann an seinem aktuellen Kurs festhalten und immer das Mindestmaß tun, um den Euro zu bewahren, aber nicht mehr. Wenn meine Analyse richtig ist, dann ist das selbst für Deutschland nicht die beste Alternative, außer vielleicht in einem sehr kurzfristigen Rahmen. Trotzdem ist es die bevorzugte Alternative der Bundeskanzlerin, zumindest bis nach den Wahlen.
Ich habe lange und schwer darüber nachgedacht, ob ich meine Argumente jetzt vorlegen oder bis nach den Wahlen warten sollte. Letztlich entschied ich mich, es jetzt zu tun, und zwar aus zwei Gründen. Erstens haben Ereignisse eine Eigendynamik, und es ist wahrscheinlich, dass sich die Krise noch vor den Wahlen verschärft. Die Rettung Zyperns hat mir Recht gegeben. Zweitens unterscheidet sich meine Interpretation der Ereignisse von der in Deutschland vorherrschenden so radikal, dass es seine Zeit dauern wird, bis sie richtig angekommen ist, und je eher ich sie vorlege, desto besser.
Lassen Sie mich meine Argumentation zusammenfassen. Ich behaupte, dass Europa besser bedient wäre, wenn sich Deutschland zwischen der Akzeptanz von Eurobonds und dem Ausscheiden aus dem Euro entscheiden würde, als wenn es seinen bisherigen Kurs, das Minimum zu tun, um den Euro zusammenzuhalten, weiterverfolgt. Dies gilt, egal ob Deutschland sich für Eurobonds oder für den Ausstieg entschiede, und es gilt nicht nur für Europa, sondern auch für Deutschland, außer vielleicht im sehr kurzfristigen Rahmen.
Welche der beiden Alternativen für Deutschland besser ist, ist nicht so eindeutig. Nur die deutschen Wähler sind qualifiziert, das zu entscheiden. Würde man heute ein Referendum veranstalten, würden die Euroskeptiker zweifellos gewinnen. Intensiveres Nachdenken könnte dazu führen, dass die Menschen ihre Meinung ändern. Sie würden entdecken, dass Deutschland von der Autorisierung von Eurobonds tatsächlich profitieren würde und dass die Kosten eines Euroausstiegs bisher stark untertrieben wurden.
Meine eigene Sicht ist folgende: Meine Erstpräferenz sind Eurobonds, meine Zweitpräferenz, dass Deutschland den Euro verlässt. Beides ist unendlich viel besser, als sich nicht zu entscheiden und die Krise zu perpetuieren. Am schlimmsten wäre es, wenn ein Schuldnerland wie Italien den Euro verlassen würde, denn das würde zu einer ungeordneten Auflösung der Europäischen Union führen.
Ich habe hier einige überraschende Behauptungen aufgestellt, insbesondere darüber, wie gut Eurobonds auch ohne Deutschland funktionieren könnten. Meine proeuropäischen Freunde können dies einfach nicht glauben. Sie können sich einen Euro ohne Deutschland nicht vorstellen. Ich glaube, sie setzen den Euro mit der Europäischen Union gleich. Die beiden sind nicht dasselbe. Die Europäische Union ist das Ziel, und der Euro ein Mittel zum Zweck. Daher sollte man nicht zulassen, dass der Euro die Europäische Union zerstört.
Aber vielleicht bin ich zu rational in meiner Analyse. Die Europäische Union ist mit dem Euro nicht nur in der öffentlichen Vorstellung verschmolzen, sondern auch rechtlich. Infolgedessen wird die Europäische Union einen Ausstieg Deutschlands aus dem Euro möglicherweise nicht überstehen. In diesem Fall müssen wir alles in unserer Macht Stehende tun, um die deutsche Öffentlichkeit zu überzeugen, einige ihrer eingefleischtesten Vorurteile und Fehlvorstellungen aufzugeben und Eurobonds zu akzeptieren.
Ich möchte schließen, indem ich betone, wie wichtig die Europäische Union ist – nicht nur für Europa, sondern für die Welt. Die EU war als die Verkörperung der Prinzipien einer offenen Gesellschaft gedacht. Dies bedeutet, dass vollkommenes Wissen unerreichbar ist. Niemand ist frei von Vorurteilen und falschen Vorstellungen, und man sollte niemandem eine Schuld für gemachte Fehler zuweisen. Schuld beginnt erst, wenn ein Fehler oder eine falsche Vorstellung erkannt, aber nicht berichtigt wird. Dies wäre ein Verstoß gegen die Grundsätze, auf denen die Europäische Union errichtet wurde. In diesem Geist sollte Deutschland Eurobonds zustimmen und die Europäische Union retten.

Diesen aus dem Englischen übersetzten Vortrag hielt George Soros im Center for Financial Studies der Goethe-Universität Frankfurt am 9. April 2013.

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