Von Volker Hentig, 17.06.2020

Früher war mehr Lametta

Loriot hat diesen Spruch publik gemacht – bei „Hoppenstedts Weihnachten“ – erinnern Sie sich? Wir werden uns in der Nachcoronazeit auf manche Abstriche an unserer Lebensführung einrichten müssen, jedenfalls viele von uns. War „früher“ wirklich alles besser? Darüber habe ich mir einige Gedanken gemacht, weil ich ziemlich viel von „früher“ erlebt habe.
Es geht also um Erlebtes, und wer mir zuhört, wird sich vielleicht ein besseres Bild von dem Damals machen können – und hinterfragen, ob wir heute und morgen wirklich alles brauchen, was wir bisher als ganz normal angesehen haben. Oder ob eben doch früher in Wirklichkeit nicht alles „besser“ gewesen ist.
Verkehrsunfall 1959 – ich hatte nach manchem entmutigenden Erlebnis mit „Blind-Bewerbungen“ nach meinem Studienende (hört, hört!) endlich eine Stelle als Betriebsassistent gefunden, Probezeit 6 Monate, man vertraute mir für einen Weg in der Stadt zum ersten Mal das (einzige) Geschäftsauto, einen der legendären Käfer, an. „Standard“, also kein synchronisiertes Getriebe. Wer weiß überhaupt noch, was das bedeutet? Das setzt Übung beim Schalten voraus oder Glück. Mein Führerschein war zwar 6 Jahre alt, aber ein eigenes Auto war unvorstellbar, in erster Linie galt er als Wettbewerbsvorteil. Jährlich einmal leistete ich mir einen Leihwagen, um ein wenig in Übung zu bleiben.

So eine Beuele war enstanden

Also, ich hatte mich mit einem unangenehmen Schaltgeräusch vom 1. In den 2.Gang vom Hof geschlichen, 3 Minuten später krachte es. Auf andere Art. Ein Kastenlieferwagen hatte mir die Vorfahrt genommen. Ich schlidderte trotz Vollbremsung noch in seine Flanke. Und stieß mit dem Brustkorb gegen die Lenksäule und mit dem Kopf gegen die Frontscheibe. Bums! Kein Anschnallgurt hatte mich festgehalten, kein Airbag abgefedert, keine Kopfstütze die Gegenbewegung des Kopfes aufgefangen. die Lenksäule gab nicht nach, das Armaturenbrett war aus Stahlblech und so hart wie das Glas der Frontscheibe.


Etwas benommen stieg ich aus. Die vordere Abdeckhaube hatte eine tiefe Delle bekommen, die so genannte Stoßstange war dem Stoß ausgewichen und hatte den Kotflügel zur Seite geschoben. Mein Unfallgegner, der Kastenwagenfahrer im grauen Kittel, suchte missmutig in den umliegenden Häusern ein Telefon, nicht ohne vorher ärgerlich, aber ziemlich glaubhaft, zu äußern: „Hier ist ja noch nie einer von der Seite gekommen“. In einer kleinen Fabrik eine Ecke weiter entdeckte er einen Pförtner und konnte endlich die Polizei anrufen. Telefone in Privathäusern waren selten. Leitungen blieben noch lange knapp, wenigstens 6 Monate Wartefrist.

Polizeikäfer mit Funkantenne

Es begann zu nieseln. Die Platzwunde an der Stirn blutete ein wenig, der Schädel brummte, das Brustbein schmerzte. Warten. Endlich tauchte ein dunkelgrüner Käfer mit einer langen Antenne auf dem Dach auf, aus dem sich zwei ältere Herren in Uniform schälten, den Jackenkragen hochschlugen und herüber kamen. Die gelegentlich vorbei kommenden Autos hatten viel Platz zum Passieren der Unfallstelle, einen Verkehrsstau brauchte man nicht zu befürchten.


Ein Beamter warf sich mit einem Klemmbrett versehen auf den Beifahrersitz, klappte einen Formularblock auf und stöhnte: „Schon der zweite Unfall heute, muss am Wetter liegen, na denn mal los, Führerschein und so weiter“. Er unterbrach sich, „Ham Se Schmerzen, ham Se sich verletzt? Prellungen wahrscheinlich, das kenn‘ wir. Woll’n Se ins Krankenhaus?“. Ich dachte, vermutlich ist das besser und sagte „Ja“. Nachdem ein Weilchen später alles umständlich aufgeschrieben und erledigt war, wälzte er sich nach draußen und ging zu seinem Streifenwagen, um über sein Funksprechgerät die Zentrale zu informieren. Eine Kamera war nicht in Tätigkeit gesetzt worden, nichts vermessen, keine Unfallspuren auf den Blaubasalt gemalt.

Im Museum zu besichtigen: VW T1

Nach einer weiteren Viertelstunde kam ein weißer Krankenwagen des DRK und man führte mich fürsorglich hinüber, setzte mich auf einen bequemen Sitz im hinteren Teil, schnallte mich sogar an, sich entschuldigend, „falls Ihnen schlecht wird“ . Vorher durfte ich noch unter Polizeibegleitung mein Auto an die Seite fahren. „Sie müssen die Tage noch auf die Wache kommen, Protokoll machen nachher“ . Seit dem Crash war wohl eine gute Stunde vergangen. Ich fror.
Im St.Franziskus mühten sich sofort zwei Schwestern um mich, den seltenen Fall rasch zu versorgen, ein Arzt fragte und schaute, dann saß ich auf dem Röntgentisch. Kopf und Nacken brummten immer noch leise, das Atmen schmerzte. An die folgende Prozedur erinnere ich mich mit Grausen. Wenn tatsächlich irgendwo eine Fraktur entstanden war, jetzt wäre sie so richtig aufgebrochen, denn – das Röntgengerät bewegte sich nicht auf den Patienten zu, sondern ich musste mich auf dem harten Tisch in embryonaler Schlafhaltung krümmen und drehen, das riesige Glasauge über mir. „Wenn Sie Schmerzen haben, müssen Sie es sagen“ . Ich sagte „Ja, ziemlich“ . Die Antwort : „Halten Sie es noch aus?“ Was hätten Sie geantwortet?


Nichts war gebrochen, Gott sei Dank. Leichte Gehirnerschütterung. Prellung am Brustbein. Verhaltensmaßregeln bekam ich auch mit. Die Empfangsschwester vermittelte gegen Zahlung von 25 Pfennig einen Anruf bei meiner Firma. An den unüblichen Luxus einer Taxifahrt dachte ich nicht. Mit dem Bus gelangte ich in die Nähe meines Autos, wanderte durch den Nieselregen dorthin und fuhr es zur Firma zurück. Zwei Stunden nach der Abfahrt war ich wieder da. Mein Chef betrachtete nachsichtig das tief eingedellte Blech am Fahrzeugbug, sagte dann: “Da haben Sie aber Glück gehabt, dass der Tank nicht gerissen ist.“ Recht hatte er, denn beim Käfer ist der Tank vorn und der Motor hinten. Hatte ich total vergessen. Trotzdem, ein Glücksgefühl wollte sich nicht einstellen und ich durfte mit der Tram nach Hause fahren. Der Arzt schrieb mich für zwei Wochen krank und verordnete eine Halskrause.
Mein Heimweg dauerte übrigens eine Dreiviertelstunde einschließlich 15 Minuten Fußweg. Daran, den „im Dienst“ lädierten Mitarbeiter nach Hause zu bringen, dachte niemand. Rückwärts betrachtet bleibt zu berichten, dass ich nach fast 40 Jahren dort als Chef ausschied, die Käfer längst durch unfallsichere Autos ersetzt wurden, Anschnallgurte, ABS und Scheibenbremsen kamen, Polizei und Rettung in Minuten vor Ort sind und vom Handy sofort zu alarmieren und …und…, na, das werden Sie ja wissen. Es dauerte 4 Monate, bis erlösende Post von der Staatsanwaltschaft kam „Verfahren eingestellt".

Wunderbarer Ausflug mit VW und Großeltern

Mein erstes Auto wenig später war natürlich auch ein VW, unvorstellbar wunderbare Ausflüge wurden möglich. So verbinden sich mit dem kleinen, lauten, flinken Käfer, den auch meine Frau fuhr, doch freundliche Erinnerungen, bis seinerzeit unvermeidbare Roststellen uns veranlassten, ihn zu verkaufen. Oldtimerfans wissen ein Lied davon zu singen.


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Volker Hentig

Volker Hentig
Volker Hentig ist 90 Jahre alt und wohnt mit seiner Frau in Bielefeld. Beruflich war er Unternehmer.


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