Von Volker Hentig, 22.07.2020

Lehrjahre sind keine Herrenjahre

Diesen Spruch zitierte mein Lehrmeister, als ich ihm am ersten Ausbildungstag gegenüberstand. Das war im April 1948 und damit noch in der Mangelzeit nach dem Krieg. Ich war an einem Punkt gelandet, den ich mir ein Jahr zuvor nicht hätte vorstellen können. Der Punkt war das „westliche“ Bielefeld statt „Ost“-Berlin, aber auch die Tatsache, Lehrling zu sein nach 2 Semestern Studium, die mir das kommunistische Besatzungsregime des sowjetischen Sektors freundlich beschert hatte.

Lehrlinge wurden „erzogen zu deutschen Gehilfen“

Mein Vater hatte einen 3-Jahre- Lehrvertrag unterschrieben, der mir Treue- und Gehorsamspflicht gegenüber einem „Lehrherrn“ auferlegte, der mich zu einem „tüchtigen deutschen Gehilfen heranzubilden“ hatte. Wie viele Lehrlinge damals unter ähnlichen Bedingungen ihren Beruf „lernten“, wie viele damit etwas ganz Anderes begannen, als sie sich wünschten, ahne ich nicht. Gewiss war nur, dass es zwischen den Trümmern der Städte und Betriebe das Große Los war, überhaupt eine Lehrstelle zu finden.


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In dem kleinen Betrieb war ich ein ungewöhnlicher Lehrling. Mit fast 19 Jahren und aus einer anderen Umgebung kommend, misstrauisch beäugt. Schließlich waren die schon Ausgelernten (Gehilfen) allesamt Westfalen, einst mit 14 Jahren von der Volksschule gekommen und als meine inoffiziellen „Vorgesetzten“ jünger als ich, der Lehrling, und standesbewusst mit „Sie“ anzusprechen, während sie mich duzten. Seinerzeit war das noch wichtig und bezeichnete den „Rangunterschied“.


Ich glaubte, nun mit einem behelfsmäßigen Arbeitskittel aus einem alten Sommermantel angetan, in die Anfangsgründe des unbekannten Berufes eingeführt zu werden. Indes, meine ersten Arbeiten bestanden im Zunageln von Verschlägen, in denen fertiggestellte Offsetdruckplatten verschickt wurden. Zusammen mit einem Faktotum namens Willi rollten wir diese dann mit einem einrädrigen Gepäckkarren durch die Stadt zum Hauptbahnhof-Expressgutschalter. Mir ging das Ausfüllen der Begleitpapiere schneller von der Hand als Willi – so wurde ich denn erst mal für einige Zeit zum Versand-Vize bestimmt. „du hast ja drei Jahre Zeit“ meinte der Meister.

Endlich nach 3 Jahren, Ziel erreicht

Die Ausbildung begann eben etwas verspätet, nicht ohne die nächste Unterbrechung, weil ein LKW mit Briketts kam und die sehnlichst erwartete Fütterung für die Heizung auf den Gehweg und dazu noch auf etwas Fahrbahn kippte. Mangelware! An der Bushaltestelle nebenan zückten schon die ersten Wartenden ihre Taschen, um für sich etwas abzuzweigen. „Junge, sofort auf die Straße, mit Willi erst mal alles in die Kellerfenster schippen, dalli !“ Mein Lehrkollege im Zweiten lächelte schadenfroh. Er hatte Glück, es gab im Moment nur zwei Schaufeln. Weitere Tage verbrachten wir damit, das schwarze bröselige Glück so aufzuschichten, dass man durch einen schmalen Gang in den Keller und an die Heizung gelangen konnte.


Dem Meister musste meine Geschicklichkeit oder Bereitwilligkeit aufgefallen sein. Statt meine Retuscheversuche fortsetzen zu können, beorderte er mich in die Recyclingabteilung, die damals natürlich noch nicht diesen Namen hatte – bearbeitete Fotoplatten wurden entschichtet, gereinigt, neu beschichtet und wieder verwendet. Neue waren schwer zu bekommen. Die Glasplatten im Format 30x40 cm bis 50x60 cm sind teuflisch unhandlich und zerbrechlich obendrein. Im Materialschrank der Abteilung standen einträchtig Gelatineplatten, Quecksilberflaschen, Zyankalidosen, Hydrochinongläser, rotes Blutlaugensalz, Fixiersalz und noch so allerlei nebeneinander, natürlich mit „Gift“-Aufklebern versehen wo notwendig. Der Lehrling wurde unterwiesen, Handschuhe Mangelware, also ein Paar für alles und immerzu. Im dämmrigen Licht der Dunkelkammer balancierte ich die Fotoschicht auf die Platten. Man lobte mich. Meine eigentliche Lehrlingsarbeit wartete.

Gehilfennetto trotz 43 Überstd. 275 DM

Ich begriff. Anstelligkeit in jedem Fall war nicht zu empfehlen. Lichtblicke: die Berufsfachschule. 3 Wochen Freiheit, denkste. Aber trotzdem, da wurde gelernt. Und das Highlight, mittags wurden abwechselnd 2 von uns losgeschickt, Schulspeisung zu holen. Im Thermobehälter schleppten wir dann – lass dir Zeit! – von der Martinischule Zusammengekochtes aus Sonderzuteilungen und Spenden eine halbe Stunde herüber zur Berufsschule in einer alten Baracke. „Mittagspause!“ Jeder bekam seinen Schlag in die mitgebrachte Schüssel, noch einen drauf, wenn gewünscht. Von quietschsüßem Haferschleim mit dicken Rosinen bis zu Stielmus im eigenen Saft, alles wurde begeistert als Zubrot genossen.


Mein Lehrlings-Arbeitsplatz

Wütend verrichtete ich meine „Zwangsarbeit“ jeden Sonnabend – 48-Stundenwoche, also bis Samstagmittag Arbeitszeit. Ich hatte den kostbaren Linoleumboden zu reinigen, dann einzufetten und blank zu reiben. Auf den Knien, lieber Lehrling, trotz schmerzendem Rücken, in drei Stunden zu erledigen. Das soll Ausbildung zum Lithographen sein? „warum hast du dich denn nicht beschwert?“ die Frage liegt nahe, aber – bei wem? Der Meister war Vorsitzender des Prüfungsausschusses. Unangreifbare „Fachkompetenz“. Der Betriebsratsvorsitzende erteilte mir ja selber Aufträge wie die folgenden im zweiten Lehrjahr so „nebenher“. Für die Bodenpflege hatte ich inzwischen einen Nachfolger im ersten.


20. Juni 1948 – Währungsreform. Geld bekam Wert, nach und nach verschwanden Bezugsscheine und Lebensmittelmarken. Um die Ecke parkte nach ein paar Monaten auf einem Trümmergrundstück ein Kioskwagen. Da gab es plötzlich herzhafte Bratwurst und (ungekühltes) richtiges Bier in Flaschen, der Bäcker gegenüber tauschte die Pappfensterscheiben gegen Glas aus und begann wieder duftende Brötchen zu verkaufen. „Meine“ Gehilfen verlangte es nun jeden Mittag nach solchen Leckereien, der Henkelmann blieb zu Hause. Und wer schaffte alles heran? Der Stift. Natürlich vor der Pause, also während seiner Lehrlingsarbeit. Der erste Besteller war wer? Der Betriebsrat.

Unaufhörlich verrann die Zeit. Nun saß ich doch einmal längere Zeit über meinen Arbeiten und bekam die ersten Kundenaufträge zur Bearbeitung. Anstelle der einzig verfügbaren Handwaschmöglichkeit, der „Grünen Tante“, in Eimern angeliefert, einer nach Marzipan duftenden grünen Paste mit eingelagerten Sandkörnern, kam Schwimmseife und endlich Sunlight in Umlauf, und die raue Haut an den Händen erholte sich. Neue außerplanmäßige Aufgaben kamen auf mich zu. Der Versandhandel, aus den USA übernommen, blühte auf. Spirituosen, Schuhe, Fotoapparate… Nebenverdienst für „Sammelbesteller“, die Aufträge sammelten, gebündelt weitergaben, die gelieferte Ware verteilten und kassierten.

Der Stift als Einkäufer

Wer durfte – wegen seiner „höheren Schulbildung“, hämisch begründet, - hier tätig werden? Der Stift im letzten Lehrjahr. Mich entschädigte, dass auch die Büchergilde Gutenberg betreut werden musste, so kam ich an uns bisher unbekannte deutsche und amerikanische Literatur. Die Gehilfenprüfung bestand ich mit einem knappen „Befriedigend“, was die praktischen Arbeiten im Ausbildungsbetrieb anging, mit „Sehr gut“ für die Theorie aus der Berufsfachschule. Ein Jahr später begann die eigentliche Lehrzeit, als ich in einen anderen Betrieb wechselte. Mein Lehrberuf starb mit dem Beginn der Elektronischen Bildverarbeitung. Ich hatte ihn schon nach 3 Gehilfenjahren verlassen. Die erworbenen Fachkenntnisse waren im späteren Berufsleben für mich sehr hilfreich, deshalb, Rückblick ohne Zorn.


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