Von Volker Hentig, 29.07.2020

Früher war mehr Lametta III

Brilon Wald statt Mallorca

Das Auto war noch für alle, die es nicht zwingend für ihr Geschäft brauchten, ein unerschwinglicher Luxus. Zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Treff bewegten wir uns mit dem Fahrrad. Fahrradwachen zum Unterstellen gab es überall so wie heute Parkhäuser. Eins zu besitzen, war auch nicht ganz einfach, ein paar Millionen hatten den Krieg nicht überlebt, neue waren sündhaft teuer. So wurden „Vorkriegsmodelle“ mit Sorgfalt und immer irgendwo zu organisierenden Ersatzteilen instand gehalten und neu bereift.

Mir stand eine Dauerleihgabe eines Bekannten zur Verfügung, den überreichlicher Bierkonsum vom Radfahren abhielt. Als eines Tages im Volkstanzkreis gefragt wurde „wer hat Lust, in den Ferien eine Radwanderung mitzumachen?“ meldeten sich erst spontan viele, als der angedachte Reiseverlauf deutlicher wurde, blieben ganze sechs übrig. Werner, der Initiator, war mit 40 Jahren der Älteste der Gruppe, die Mitfahrer um die 20. Radwandern wurde gerade „in“, Reisen nach Mallorca, schlicht unbekannt.

An einem kühlen Julimorgen 1950 stiegen wir um 6:14 in den Personenzug nach Brilon Wald. Fahrräder waren am Packwagen aufzugeben. 2 Stunden ruckelten wir mit dem Dampfzug durch Westfalen, leicht müde noch und neugierig auf die Woche, die vor uns lag. Unsere frisch geölten und aufgepumpten Drahtesel – nur einer von uns hatte eine 3-Gang-Schaltung – mussten allerlei tragen. Übernachtungen im Hotel waren nicht vorgesehen, dazu fehlte das Geld, also Decke und Zeltbahn mussten mit, Wäsche zum Wechseln, allerlei Krimskrams, Essgeschirr und Besteck, Pullover und Jacke, je ein Zelt packten wir Werner und Quick , dem Pfadfinder, auf, deren Gepäck teilten wir unter uns.

Radweg und Kleinbahn im Westerwald

Endstation. Au weh, es geht gleich bergan, die leere Landstraße durch Hochwald, und bald streikt der erste und steigt ab. Schieben. Der erste Tag war der Schwerste. Werner hatte sinnvollerweise Nebenstraßen und Feldwege ausgesucht. Für die Stille, die harzige Luft, fehlt uns die Bewunderung. Es scheint überwiegend bergauf zu gehen, die Bergabfahrten bleiben zu kurz, um uns zu trösten. Ein Gasthaus am Wege, Mineralwasser muss her, mitgebrachte Butterbrote werden verzehrt, stöhnend beginnt die Fortsetzung. Werner tröstet „Morgen geht es besser, dann sind wir oben…“ Irgendwo in einem Dorf beginnt das Abendläuten. „Haalt, hier am Waldrand, auf der Wiese übernacht,n wir.“


Ziemlich wortkarg werden Heringe in den Boden geklopft, die beiden Zelte aufgefaltet, die Liegeflächen von Steinchen und Hölzchen befreit, nach Ameisen geforscht, die Klamotten ausgebreitet, Trainingshose und Pullover angezogen. Werner zündet eine Tablette im Esbitkocher an, unsere Mineralwasserreste werden in seinem Topf erwärmt, der Pfefferminztee, jeder einen Becher, schmeckt etwas anders als gewohnt. Das letzte Brot von zuhause wird gegessen. Wir quetschen uns in die Zelte, Müde, müde, Schlafen, gar nicht so einfach, der Wald schläft nicht, geheimnisvolle Geräusche halten uns noch eine Weile wach.!

So habe ich mir das irgendwie nicht vorgestellt. Das ist ja eine Schinderei. Alle Knochen schmerzen. Es geht weiter. Unerbittlich. Im Dorfladen gibt es duftende frische Brötchen. Eine Halbliterflasche Kakao dazu, Frühstück für 55 Pfennig. Die Sonne kommt. Der Muskelkater geht. Langsam bessert sich die Stimmung.

Schmale Sträßchen, das Ruhrtal hinauf, nach Winterberg, rund um den Kahlen Asten, wir durchziehen das Rothaargebirge an Berleburg vorbei, meist in Tallagen, über Dillenburg und Herborn hinauf in den Westerwald und hinab nach Limburg an der Lahn. Wir folgen dem Ahrtal bergan bis Bad Schwalbach und rollen beglückt viele Kilometer wieder bergab nach Lorch am Rhein.

Tag um Tag Anstrengung und zugleich Freude über jeden bewältigten Anstieg, weite Talblicke, Dörfchen mit Misthaufen vor der Tür, freundliche Fachwerkstädtchen. Autos sehen wir selten, andere Radwandergruppen grüßen wir mit „Servus“. Manchmal dürfen wir in einsamen Heuschobern übernachten, die erste Mahd bietet sich als duftendes weiches Lager an. Einmal überfällt uns nachts ein Gewitter, wir können unter das Vordach einer Schaltstation flüchten, die restliche Nacht verbringen wir mit dem Retten unserer Habseligkeiten vor dem Regen.

Belohnung nach dem Anstieg: Talblick

Wir leben von Mineralwasser und Bäckerbesuchen, einem Stück Käse auf der Hand oder einer Wurst. Zweimal kreuzen wir eine verschlafene Kleinbahnlinie, da findet sich ein Bahnhöfchen mit einer Gaststätte. Erbsensuppe oder Bratkartoffeln für ´ne Mark.


Hinter Lorch quälen wir uns eines Nachmittags auf der Rheinuferstraße zwischen Autos und dem Bahndamm entlang. Da steht oben an den Gleisen ein Feldsteinhaus. Ein Zettel unten am Geländer „Übernachten für wenig Geld“. Nichts wie rauf, eine enge Unterführung, der Eisenbahner führt uns auf seinen geräumigen Dachboden, Strohsäcke im Angebot. Egal. Nehmen wir. 50 Pfennig pro Person. „Und jetzt noch Rüdesheim“, meint Werner. „Lasst die Räder besser hier!“ Halbe Stunde Fußmarsch, immer an den Gleisen entlang, dann ein Glas herrlichen kühlen Rheinwein, weißen natürlich. Und ein beschwerlicher Rückweg. Wenig im Magen, zu wenig Mineralwasser getrunken. Obwohl Güter- wie Personenzüge die ganze Nacht hindurch vorbeidonnern, schlafen wir weinselig (?) gut.

Nach den Bratkartoffeln im Bahnhofsrestaurant

6. Reisetag. Kassensturz. Es reicht zur Rheindampferfahrt von Lorch bis Koblenz, das schönste Stück des Flusses. Wir, die Kriegskinder, genießen andächtig die Fahrt auf dem Rhein, „Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze“ hatten wir einst gelernt. Die französische Besatzertrikolore grüßt von allen Burgen. Dann geht es erholt mit dem Rad weiter. In Bonn weht die neue deutsche Bundesflagge vor dem gerade fertiggestellten Bundeshaus – das hat uns berührt, damals, wir waren voller Hoffnung, Frieden und Freundschaft in der neuen Republik und auch mit unseren französischen Nachbarn.


Es war eine Schnapsidee, Werner gibt es später zu, auf der anderen Rheinseite ein Nachtquartier zu suchen. Ausgerechnet in einer Gartenwirtschaft fragt er nach, wo wir denn gegen wenig Geld übernachten könnten. Der Wirt meint, in der Veranda wär´ doch genug Platz, Gäste seien draußen keine mehr da. Wir rücken uns Polsterbänke zusammen und genießen den Vorteil, Sanitäranlagen nutzen zu können, wenn der Preis für die Übernachtung auch 1.50 p.P. beträgt. Die halbe Nacht lärmt die Musicbox im Gastzimmer. Die letzten Gäste blieben lange an der Theke.

Dann auf nach Köln. Die Straßen sind passierbar, aber die Stadt ist immer noch voller Ruinen. Wir fahren deprimiert durch die alten Gassen, sehen das verkohlte 4711-Haus wie die Narben am Dom. Am Hauptbahnhof zählen wir unser Restgeld. Werner kann die Bahnfahrt von dort bis Bielefeld für sich und seine Tochter bezahlen, unser Geld reicht gerade noch für einen Personenzug bis Hamm. Wir winken ihnen im sinkenden Abend nach.

Köln vom Deutzer Ufer, der Dom ist stehen geblieben, die Brücke gerade neu errichtet

Jetzt nachts 80 km bis Bielefeld? Nee, wir hauen uns neben der Bundesstraße hin, einfach mit Zeltbahn ins Gras. Nachts ist wenig Verkehr. Am Morgen kriecht aus den Lippewiesen eiskalter Frühnebel und weckt uns. Erschöpft erreichen wir mittags Bielefeld. Mutter flößt mir eine heiße Zitronenlimonade ein und schickt mich ins Bett. Es ist Sonntag.


Richtig, ein Navi war unbekannt, man orientierte sich am Messtischblatt 1:50.000. Nein, wir duschten nicht jeden Abend, genauer gesagt, gar nicht. Ja, dem Wetter konnten wir nicht entrinnen, regendichte Funktionskleidung noch nicht erfunden, man musste halt auf das Glück vertrauen, das hatten wir, es blieb fast regenfrei, manchmal bedeckt, an sonnigen Tagen nicht zu warm. Für mich bleibt es eine der eindrucksvollsten Reiseerinnerungen meines Lebens. Mallorca kam erst sehr viel später.

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