Von Volker Hentig, 05.08.2020

Europa? Europa!

Der 23.September 1944 war ein Sonnabend im Krieg. Über die Tannenspitzen fegte die Hurrican heulend heran, das Mündungsfeuer an den Tragflächen sahen wir kaum, dann war sie vorüber, wenige Schritte neben uns war die Reihe der todbringenden Geschosse als Dreckfontänen aufgespritzt, verfehlte uns. Mit unserer Zwillingsflak hatten wir einen Leuchtspurzaun quer über den Waldrand gelegt, zu spät. Der Feind drehte nach Westen, die Kokarde am Rumpf leuchtete kurz auf. Über dem Odenwaldstädtchen im Tal stand die Sonne tief. Das Motorengeräusch verebbte. „Alarm beendet, Flakhelfer wegtreten zur Pause!“ brüllte der Unteroffizier.

Februar 1945. „MÜO Berlin Neun nach Null, Kennung B, Baumuster Lancaster, Spitze in Null vier Nord mit Kurs auf fünfzehn Süd Gustav Heinrich“. Auf der Wandtafel trugen wir Positionen und Kurs ein. In einer halben Stunde würde es über unseren Köpfen dröhnen von hunderten schwerer Flugmotoren und die British Airforce würde gemeinsam mit der US-Airforce mit ihren Spreng- und Brandbomben ein weiteres Stadtviertel in Schutt und Asche legen, Menschen werden unter den zusammenbrechenden Häusern erschlagen sein, werden durch Feuer und Rauch zu entkommen versuchen, „ausgebombt“. (Vier Jahre zuvor hatten deutsche Bomber ihre Luftangriffe auf London begonnen.)

An einem Sonnabend im Juni 1950, fünf Jahre später, diskutiere ich mit einer jungen englischen Lehrerin über die unterschiedlichen Schulsysteme in unseren Ländern, britische Soldaten teilen fröhlich aus ihrer Feldküche eine Bohnensuppe aus. Zur „Woche der Jugend“ bei Bielefeld sind auch noch andere gekommen, Dänen, Norweger, Italiener, Schweizer, Polen, und vor allem Franzosen. Junge Leute wie wir, jeder von uns mit einem Feindbild im Gepäck seiner Erziehung, seiner Erfahrungen, jeder von uns locker und glücklich, dass der Krieg vorbei ist. Noch wird, wer als Deutscher nach Frankreich oder Holland fährt, dort im Bistro oder Coffeeshop nicht bedient, Hotelzimmer für Deutsche? Alles belegt. Wir, die junge Generation, wollen nicht mehr die Vergangenheit, wir wollen ein neues, anderes Europa.

der erste europäische Vertrag 1951

Wo waren Vorbilder für unsere unklaren Vorstellungen von einer gemeinsamen Zukunft? Drei prominente Redner stellten sie uns vor. Eine Frau Kurz war gekommen, in der Schweiz lebend, für die Idee einer Weltfriedensorganisation hatte sie schon während des Krieges gekämpft, nun nahm sie in den Vereinten Nationen Gestalt an. Von der Sorbonne kam Professor Lenz-Medoc, er appellierte an unseren Verstand, statt auf Vernichtung des Gegners auf Verständigung zu setzen, auf Kompromisse. Einen flammenden Vortrag hielt uns der Journalist Alfred Grosser, aus Deutschland emigriert, warb er unwiderstehlich für eine deutsch-französische Freundschaft statt der jahrhundertealten „Erbfeindschaft“. (Frau Kurz erhielt für ihre Verdienste die Ehrendoktorwürde der Universität Zürich, Professor Lenz-Medoc wurde der Verdienstorden der Bundesrepublik verliehen ebenso wie Alfred Grosser, der in Frankreich zum Großoffizier der Ehrenlegion ernannt wurde.)


Als wir nach zwei Tagen auseinandergingen, ist in uns das Bild eines Vereinten Europa entstanden, das allein für uns alle eine friedliche Zukunft schaffen würde. Die Idee und ihre Verwirklichung sollte fortan unser Leben begleiten

Woche der Jugend, Diskussion

„Nie wieder Krieg!“.


die 6 EWG-Staatschefs 1952

Mühselig, aber hartnäckig, bewegt sich der Europa-Zug voran. Ein Jahr später entsteht auf eine Initiative des französischen Außenministers Schuman die europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, neben Deutschland und Frankreich (den „Erbfeinden“) treten ihr Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande bei. „Rumpfeuropa“ ist entstanden. 1957 erfolgt der nächste große Schritt, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – er beginnt, unser Traum von offenen Grenzen, die Europäische Atomgemeinschaft folgt, Anfang 1958 ist nach unseren Vorstellungen geschehen, was wir uns wünschten und woran viele mitgearbeitet haben, die EWG erhält ihre Gemeinschaftsinstitutionen, den Europäischen Rat, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament. 1968 fallen die Binnenzölle.


die 6 EWG-Staatschefs 1952

Bis 1992 erweitert sich die Gemeinschaft auf 12 Mitgliedstaaten, mit dem Ende des Ostblocks öffnet sie sich im Vertrag von Maastricht für Ost- und mitteleuropäische Länder, nun „Europäische Union“. Schließlich bekommt die EU mit der Einführung des EURO 1999 als Buch- und 2002 als Bargeld auch ihre einheitliche Währung.


Wir, die Kriegskinder, die Utopisten von 1950, sahen, wie unser Traum Wirklichkeit wurde. Nach und nach konnten wir reisen, wohin wir wollten, wurden gern gesehene Gäste rundum und schufen Städtepartnerschaften, tauschten Schüler und Delegationen. Aber wir erkannten auch, dass die Erweiterungseuphorie in Regionen mit gänzlich anderen, geografisch, geschichtlich und religiös bedingten, abweichenden Lebensregeln Probleme mit sich bringen würde, für die keine Vorsorge getroffen war in den europäischen Regelwerken.

War es ein Traum? 1950 ja. 2020 ist er längst Realität geworden. Besteht Gefahr? Ja, die des Scheiterns an den menschlichen Unzulänglichkeiten, dem fehlenden Willen zu demokratischem Wandel, der mangelnden Weitsicht. Diese Gefahr ist allen humanistischen Projekten immanent. Wie sich andeutet, sind eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Wirtschaftsordnung keine Garantie gegen das Auseinanderdriften, siehe Brexit. Als der Krieg allen Protagonisten noch sehr lebendig und nahe war, konnten Kompromisse gefunden werden, war die Überzeugung, dass ein Kompromiss besser ist als eine Konfrontation, eine allgemeine Erkenntnis, und das von Franz Josef Strauß zitierte „pacta sunt servanda“, das verlässliche Einhalten getroffener Verabredungen, akzeptiert als selbstverständliche Voraussetzung allen Gelingens.

die EU-Staatschefs im Juli 2020

Nun stehen sie da, 27 Regierungschefs, das ganze Vereinte Europa, lächeln, schütten Milliarden Buchgeld über die 447 Millionen Einwohner ihrer Staaten aus – aber einig sind sie sich nicht?! Wird das Europäische Parlament klüger sein? Schwerlich, die demokratische zeitliche Mandatsbegrenzung zielt auf raschen Erfolg. Dicke Bretter bohren braucht aber Zeit. Die Welt ringsum verändert sich schneller als das System der EU. Die Zeit wird knapp!


70 Jahre sind vergangen seit unserer „Woche der Jugend“, seit damals. Inzwischen sind wir Greise. Stolz sind wir auf den Erfolg der europäischen Idee, auf das endlich nach vielen Diskussionen, eben auch immer wieder Kompromissen, Erreichte. Redet sie nicht klein! Sie möge uns überleben! Ihr, unsere Kinder, unsere Enkel, ahnt ihr, wie sehr ihr sie braucht, ihr, die kein anderes Europa kennt? Ändert sie wo notwendig, aber erhaltet sie!

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