Von Carsten Krystofiak, 15.04.2020

Wie erleben Münsters Kulturschaffende... -

Wie erleben Münsters Kulturschaffende, Künstler*innen und Klein-Gastronom*innen den Shutdown des öffentlichen Lebens? Stehen sie vor dem Nichts oder haben sie einen Plan B? Wie gehen sie persönlich mit der Krise um? Wir fragen nach …

… beim Tanzstudioleiter und Musiker David Rebel

"...ganz viele muntern uns durch freundlichen Zuspruch auf oder wollen sogar finanziell helfen."

Tanzlehrer haben jetzt viel Zeit...

Stimmt, wir haben zu. Was ich absolut richtig und nötig finde. Wir haben darum sogar schon vor dem politischen Beschluss zugemacht.


Woher kommt jetzt das Geld?

Wenn wir im März und April ausgefallene Stunden wie geplant komplett in den Sommerferien nachholen können, zahlen im April noch unsere Teilnehmer. Sollte das nicht gehen, oder aber wir in den Folgemonaten immer noch geschlossen sein, muss ich auf Rücklagen zurückgreifen, die eigentlich für meine Altersvorsorge gedacht waren. Ewig geht das nicht, denn Miete, Lohn- und weitere Kosten sind monatlich fünfstellig. Aber ich will den Betrieb erhalten, damit die Mitarbeiter und ich noch einen Job haben, wenn es weitergeht. Und unsere derzeit über tausend Teilnehmer würden ihr Tanzzuhause wohl auch vermissen...

Kannst du den Unterricht nicht online streamen?

Online-Inhalte sehe ich nur als kostenlose Bonbons, denn unsere Leistung besteht ja nicht nur aus Unterricht, sondern auch Service, Möglichkeit der Begegnung und großen Tanzräumen. Fürs Training zuhause hätten viele gar keinen Platz. Das kann ich nicht mit ein paar Videos simulieren. Wir wollen zwar Clips ins Netz stellen, um unseren Kunden eine Freude zu machen, aber dafür nehmen wir natürlich kein Geld.

Die Tanzlehrer sind eigentlich auf volle Kurse angewiesen.

Die sind ganz besonders betroffen. Wir haben zwanzig freie Tanzdozenten, weil unser Spektrum so breit ist, dass das kein Lehrer alleine decken kann. Diese Kräfte unterrichten zwar an verschiedenen Orten, aber es bricht ja gerade alles weg. Die sind nun auf staatliche Hilfe angewiesen. Darum möchte ich auch so viel Unterricht wie möglich in den Sommer- und Herbstferien nachholen, damit die freien Lehrer, die in den Ferien normalerweise nicht an den Schulen unterrichten können, bei uns dann Geld verdienen können. Wir werden bei Bedarf auch Vorschüsse auf Nachholunterricht bezahlen. Falls das alles noch länger dauert, werde ich eine Spendenmöglichkeit einrichten, mit der unsere Kunden direkt ihren Lieblingstrainer unterstützen können.

Bekommt ihr auch Unterstützung von den Kunden?

Ja, ganz viele muntern uns durch freundlichen Zuspruch auf oder wollen sogar finanziell helfen. Diese Solidarität zu erleben, macht uns unheimlich glücklich und dankbar!

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… bei Jan Viehoff von rs-Möbel

»Die Hauptsache ist, positiv zu bleiben und dass wir alle möglichst vernünftig mit den Herausforderungen der Situation umgehen …«

Sind die Filialen von Yellow und rs-Möbel in Münster geschlossen?

Ja und nein. Für das Publikum sind sie natürlich geschlossen, aber wir arbeiten trotzdem weiter: Wir nehmen Bestellungen per Telefon und Mail an und liefern die Ware aus. Natürlich kontaktlos: Der Kunde öffnet die Tür und tritt zurück; die Mitarbeiter tragen hinein und bauen auf. Oder die Kunden kommen zu uns und nutzen die Klingel, die wir am Hintereingang installiert haben. Dann kommt jemand mit dem tragbaren EC-Gerät, stellt die Ware auf den Parkplatz ab, der Kunde zahlt, packt ein und fährt. Die Kollegen von Yellow machen es genauso.


Kaufen denn jetzt noch viele Leute Möbel?

Die Kaufentscheidung für ein größeres Möbelstück reift ja langsam. Die Leute haben es viel­leicht schon öfter in der Filiale angeschaut, aber die Entscheidung verschoben, jetzt wo sie Zeit haben, sagen sie: Komm’, das machen wir jetzt. Zumal bei vielen die Urlaubsreise im Sommer wohl ausfallen wird.

Und das kommt bei den Kunden gut an?

Auf jeden Fall. Wir vergeben halbstündliche Termine und heute am Samstag ist kein Termin mehr frei! Das funktioniert aber hier auch nur, weil die örtlichen Gegebenheiten mit dem Hintereingang und dem Parkplatz dafür optimal sind. In anderen Filialen ist das nicht unbedingt möglich. Man muss eben flexibel sein und die Verordnungen so deuten, dass wir niemanden gefährden, aber auch irgendwie weitermachen können und bei den Kunden im Gedächtnis bleiben.
Das bedeutet auch, die Belegschaft hat noch ihre Jobs. Wir haben zwar Stunden reduziert und bauen Überstunden ab, aber es wurde noch niemand entlassen und es gibt auch keine Kurzarbeit. Wir haben zwei Teams gebildet, die sich nicht begegnen, damit wir handlungsfähig bleiben, falls jemand durch Krankheit ausfällt. Wir sind natürlich darüber froh, denn alles ist besser, als Entlassungen.

Glauben Sie, dass es bald vorbei ist?

Ich habe die Hoffnung, dass sich die Lage bald eingeschränkt wieder normalisiert, vielleicht wie in den Baumärkten mit Beschränkung der Kundenzahl und mit Türsteher. Die Hauptsache ist, positiv zu bleiben und dass wir alle möglichst vernünftig mit den Herausforderungen der Situation umgehen und uns nicht so verhalten wie die aggressiven Panikkäufer im Supermarkt. Die Verkäufer im Lebensmitteleinzelhandel, die verdienen jetzt echt Respekt!

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… beim Mitbegründer des Kulturquartiers, Rainer Kossow

»Dabei hatten wir zu Beginn dieses Jahres erstmals finanziell Morgenluft geschnuppert, weil die Räume besser ausgelastet waren. Und jetzt der Totalausfall.«

Ihr seid bisher immer ohne Fördergelder ausgekommen …

Genau, das war von Anfang an unser Konzept. Wir haben dafür mit geliehenem Geld das Grundstück gekauft und die Gebäude mit vielen Unterstützern selbst gebaut, alles frei von öffentlichen Mitteln. Das Projekt trägt sich dadurch, dass wir die Räume vermieten – an Chöre, Musiker, Tanz- und Yogagruppen, für Workshops, was du willst. Wir haben einen „Bandraum“, einen großen „Saal“ mit tollem Ambiente, Flügel und Tonanlage sowie einen „Salon“ für kleine Gruppen. Das Ganze für zwischen 6 und 25 Euro pro Stunde! Das Geniale ist, dass wir im Gewerbegebiet an der Rudolf-Diesel-Straße keine privaten Nachbarn stören und trotzdem sind wir nur vier Kilometer Luftlinie vom Domplatz entfernt!

Jetzt gibt’s aber ein Problem …

Allerdings! Dabei hatten wir zu Beginn dieses Jahres erstmals finanziell Morgenluft geschnuppert, weil die Räume besser ausgelastet waren. Und jetzt der Totalausfall. Wir wissen nicht wie lange diese Krise dauert und wie lange wir durchhalten können. Wir selbst, also unser achtköpfiges Team, arbeiten ehrenamtlich ohne Lohn. Wir leben von unseren „Jobs“, zum Beispiel als Musiker. Aber weil die praktisch alle jetzt auch ausfallen, können wir wirklich kein Geld mehr in’s Kulturquartier geben. Die nächsten 12 Wochen und Wochenenden wären gut gebucht gewesen – jetzt ist nix mehr.

Kriegt Ihr keine Nothilfe?

Ja, das reicht vielleicht für drei Monate. Aber es ist ja so, dass viele Gruppen erstmal längerfristig nicht kommen, weil sie vorsichtig sind oder selbst ganz andere Probleme haben, als sich in unseren Räumen zu treffen. Es ist so, wir können im Moment überleben, aber perspektivisch, langfristig ist das Projekt akut in Gefahr. Wir finden aber, dass dieser Ort, als Platz für Begegnung und Kreativität für Münsters Gesellschaft gerade jetzt und nach Corona echt wichtig ist.

OK, wie kann ich Euch helfen?

Wir haben es seit 2014 bisher immer irgendwie geschafft, aber jetzt brauchen wir wirklich Hilfe. Leute, wir brauchen jetzt Euch! Jeder Euro zählt, egal, ob Einzelspende oder Dauerauftrag, ob Unternehmen oder Privatperson – helft uns, das Kulturquartier dauerhaft zu erhalten! Auf
www.kulturquartier-muenster.de Unsere IBAN lautet: DE12 4306 0967 4084 3053 00. Danke!!


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… beim Schüler Paul Hurlebaus

»Wenn man so eine Bambus-Leitung hat, wie in unserem Viertel und die Home-Office-Eltern auch im Netz sind, nervt’s. Dann kommt man nicht rein, um sich seine Aufgaben zu holen.«

Du willst im Sommer Deinen Schulabschluss machen. Gibt es dazu konkrete Informationen?

Die Prüfungen sollen um eine Woche verschoben werden, aber auf jeden Fall stattfinden. Genaues weiß man aber noch nicht, denn die Prüfungen müssen ja in der Schule unter Aufsicht abgehalten werden.

Wie findest Du den Online-Unterricht mit iSurf und Zoom?

Eigentlich OK, aber die Servern schmieren relativ oft ab. Wenn man so eine Bambus-Leitung hat, wie in unserem Viertel und die Home-Office-Eltern auch im Netz sind, nervt’s. Dann kommt man nicht rein, um sich seine Aufgaben zu holen.

Kommen die meisten Schüler mit der Technik klar?

Die meisten Schüler schon. Erstaunlicherweise sogar die Lehrer.

Ist e-Learning besser als zur Schule zu gehen?

Nicht unbedingt. In der Schule hab’ ich einen geregelten Tagesablauf und Freizeit, wenn ich alles erledigt habe. Eigenverantwortlich zu arbeiten, ist schwieriger, hab’ ich gemerkt.

Was machst Du den ganzen Tag?

Das Blödeste ist, dass man sich nicht zu mehreren treffen kann. Aber wenigstens kann man sich noch zu zweit verabreden. Solange das Wetter gut ist, fahre ich Skateboard. Das Gute ist, dass momentan keine älteren Leute unterwegs sind, die einen von coolen Spots vertreiben. Ansonsten kommuniziere ich mit meinen Freunden per Inter­net, zum Beispiel über Insta oder beim verbun­denen Zocken mit der PS4. Oder ich glotze YouTube-Videos.

Hast Du schon Betroffene solidarisch unterstützt?

Ja, beim Black Heaven Skateshop, der Münsters Skatemarke Koloss vertreibt, hab’ ich schon Anfang des Jahres meine Weihnachts-Geldgeschenke verbraten. Außerdem kann man ja auch online da einkaufen…


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… bei Clair Howells vom Theater Titanick

»… wir sind verdammtnochmal Tita­nick! Wir sind 30 Jahre lang an allen Eisbergen vorbeigefahren – wir geben jetzt nicht auf.«

Bist Du nicht die rote Königin aus „Alice“?

Ja und die Mitbegründerin vom Straßen­thea­ter Titanick. 1990 kam ich aus Australien nach Deutschland und habe es hier gemeinsam mit Uwe Köhler ins Leben gerufen.

Eure Sommerpläne dürften sich erledigt haben …

Wir hatten eine Tournee durch Europa geplant und hätten im Mai in Südfrankreich gestartet und wären über Deutschland bis nach Polen getourt – alles abgesagt! Und wir können als Open Air-Theater unser Jahres­budget nur im Sommer verdienen.

Bekommt Ihr keine staatlichen Hilfen?

Das Problem ist: Unser festes Team besteht aus selbstständigen Freiberuflern. Wir können nicht sagen: »Hey, wir sind die Firma Titanick, rettet uns mal.« Aber das Schlimms­te ist: Das alles passiert jetzt im Jahr unse­res 30. Jubiläums!

Oh nein!!

Wir hatten richtig spektakuläre Auftritte geplant. Zum Beispiel wollten wir unseren Klassiker „Titanick“, den wir seit fünf Jahren nicht gespielt haben, sieben Mal im Gasometer in Münster aufführen! Alles zunichte! Und dabei hatten wir seit Jahren davon geträumt, mal ein Stück im Gasometer zu inszenieren. Außerdem hätte im Juni ein neues Stück Premiere auf dem Syndikatsplatz haben sollen.

Hätte …

Ja, aber wir sind verdammtnochmal Tita­nick! Wir sind 30 Jahre lang an allen Eisbergen vorbeigefahren – wir geben jetzt nicht auf!

Deshalb die Aktion S.O.S. Titanick –

Genau. Wir wollen die Jubiläumsshows im Gasometer unbedingt im nächsten Jahr nachholen. Da wir aber in diesem Jahr keine Einnahmen haben, sind wir auf Hilfe angewiesen, um 2021 überhaupt weitermachen zu können. Aber es haben uns auf Facebook so viele Fans ermutigt – zum Beispiel jemand, der uns letztes Jahr in Mexiko gesehen hat – dass wir einfach nicht untergehen dürfen.

Wie funktioniert die Rettungsaktion?

Zusätzlich zu den Eintrittskarten bieten wir Bonuskarten an. Es ist wie auf der Titanic: Für die Bonuskarten der Dritten Klasse ab 10 Euro bekommt man beim Besuch einer-Vorstellung ein Glas Sekt oder Saft. Für die Zweite Klasse ab 50 Euro gibt es ein T-Shirt oder das Titanick-Buch. Und in der Ersten Klasse ab 500 Euro nimmt man am eleganten Käptn’s Dinner in den Originalkulissen teil!

Her damit! Wo kriege ich die Bonuskarten?

Du findest die Spendenaktion direkt auf www.titanick.de/sos/. Da stehen alle Infos. Wir freuen uns natürlich auch über kleinere Spenden.

Viel Erfolg!


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… beim Consultant, Coach und Autor Holger Bröer

»Die Schwestern und Pfleger kümmern sich morgen vielleicht um Dich!«

Was haben Sie da für eine Spendenaktion initiiert?

Ich bin gerade aus den USA gekommen und war eben gelandet, da ging es hier los. Das totale Chaos – und mittendrin und live dabei die vielen Krankenschwestern, Kranken- und Altenpflegerinnen und -pfleger. Die machen jetzt einen brutal harten Job, bis der Kittel brennt und die werden nicht gefördert. Die müssen aber ihre Band bezahlen – von dem Geklatsche auf’m Balkon können die sich nichts kaufen und 30 Tafeln Merci-Schokolade können die auch nicht futtern. Darum brauchen die jetzt Kohle!

Und die wollen Sie einsammeln?

Exakt! Ich bin nunmal kein Typ, der auf’m Sofa sitzt und Netflix glotzt – ich will was machen, aktiv und jetzt sofort!

Was verdienen Krankenschwestern eigentlich?

Die Tarifverträge sind ein Witz! Eine examinierte Krankenschwester verdient zwischen 30- und 33.000 Euro brutto im Jahr. Aber das kann ich momentan nicht verändern. Was ich kann, ist jetzt Kohle zu sammeln, die direkt und sofort ankommt. Am UKM arbeiten 2.500 Krankenschwestern und die brauchen jetzt unsere Euros!

Super! Und wie kommen die da ran?

Ich und meine ganze Fankurve spenden, Du als Privatperson spendest auch, alle Unternehmen, die dabei sein wollen kriegen natürlich PR und Werbung und allen Kunden, mit denen ich ins Geschäft komme, verspreche ich, dass ich zehn Prozent meiner Rechnungssumme ebenfalls spende. Also geh’ jetzt auf unsere Aktion bei www.gofundme.org und drück’ Deinen Euro für die Pfleger und Schwestern ab!

Wie finde ich die Aktion da?

Der Spendenaufruf heißt »Haste mal nen EURO?« und der Untertitel lautet: Empty your purse to feed a nurse! Schau Dir dazu auf www.broeerpartner.com den Aufruf und das Video an! Und denk’ dran: Die Schwestern und Pfleger kümmern sich morgen vielleicht um Dich!


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… bei Martje Saljé, der Türmerin von Münster

Glaube, Liebe, Hoffnung: »Tuten tut gut«

Die Türmerstube ist ein sehr besonderer Arbeitsplatz: Allein und doch im Kontakt zu den Menschen unten in der Stadt. Fühlst du die menschenleere Stadt dort in luftiger Höhe?

Es ist immer ein besonderer Ort, aber jetzt im Moment der globalen Ansteckungsgefahr bin ich mir noch mehr bewusst, wie speziell das alles ist: Ich blicke über die Stadt und es so ruhig, so leer, so friedlich – aber es ist natürlich eine trügerische Idylle.

Wie empfindest du die Aufgabe gerade als Teil einer jahrhundertelangen Tradition, was bedeutet es für dich, in dieser Zeit die Türmerin der Stadt zu sein?

Einen Teil meiner Arbeit als Türmerin verstehe ich auch als historische Recherche über die Welt, die Situation meiner Vorgänger auf dem St. Lambertiturm. Die älteste bekannte Schrift nennt Türmer im Zusammenhang mit der Brandkatastrophe im Jahre 1383. Ein Jahr zuvor wurde Münster von der Pest heimgesucht und viele Menschen verloren ihr Leben. Diese Pesterfahrungen prägten die damalige Gesellschaft (nicht nur in Münster) und sicherlich auch die Türmer auf der Stadt- und Marktkirche, die alle auch Familien und Freunde hatten. An diese Zeit denke ich jetzt gerade besonders. Auch an andere Krisenzeiten, die Münster schon überstanden hat: Die total eskalierte Täuferzeit, den Ersten Weltkrieg, die Novemberrevolution, die Nationalsozialisten und den Zweiten Weltkrieg … Wie auch immer die jetzige Zeit des neuen Coronavirus in der Zukunft beschrieben werden wird, vielleicht gibt es ja hier oder dort dann eine kleine Fußnote, dass die Türmertradition auch jetzt weiter fortgeführt wird.

Normalerweise schaust du in die Himmelsrichtungen – sind dort »Feinde«, steigt Rauch auf? Jetzt ist der Feind ein unsichtbares Virus. Auf welche Weise bewegt dich die Krise?

Ich selbst habe es ja wirklich gut, mein Arbeitsplatz ist viren- und gefahrenfrei, aber gleichzeitig geht es vielen anderen äußerst schlecht, sie verlieren ihre Anstellung, sie sind krank, sie sterben … das alles schnürt mir mitten im Gefühl der fast romantischen Ruhe auf dem Turm mitten in der Großstadt Münster die Kehle zu und ich möchte weinen.

Das Tuten des Horns in die drei Himmelsrichtungen steht für Glaube, Liebe, Hoffnung. Hat dies in diesen Zeiten eine besondere Bedeutung?

Ich bekomme viele schöne Rückmeldungen auf meine Blogartikel und oft heißt es: Das Friedenssignal sei für Anwohner*innen, die mir lauschen und meine Berichte lesen, ein Symbol für die typische münsterische Lebenseinstellung, dass hier Traditionen und Moderne in bester Synergie miteinander funktionieren, und dass es ihnen Hoffnung gebe in diesen widrigen Zeiten. Ich bin sicher, das verlässliche weltliche Hornsignal mit den verlässlichen christlichen Werten Glaube, Liebe, Hoffnung ist besonders in diesen Zeiten ein ganz starkes Symbol!

Wie hat sich dein Leben als Künstlerin verändert, was bedeuten die Absagen für dich, der Austausch mit dem Publikum?

Ich habe insbesondere in diesem Jahr 2020 neben der halben Stelle als Türmerin der Stadt Münster vollständig auf die Musik gesetzt – sonst hatte ich um den Lebensunterhalt zu sichern immer eine oder mehrere angemeldete Nebentätigkeiten (Bürojobs, Aushilfsjobs, Minijobs). Jetzt habe ich aktuell mehrere sehr gut angelaufene neue Musikprojekte – und bevor es richtig losgehen kann, werden alle geplanten Auftritte abgesagt. Schon aus rein finanziellen Gesichtspunkten wird es jetzt ziemlich schwierig, den relativ teuren Lebensstandard in Münster aufrechtzuerhalten. Und die ideellen Werte wie Lebensfreude durch Endorphine auf der Bühne und Glücksgefühle durch das Glücklichmachen des Publikums fallen jetzt auch weg, das müssen wir Künstler*innen jetzt irgendwie anders versuchen aufzufangen.

Was ist für dich der Unterschied zwischen den Veranstaltungen im digitalen Raum zum persönlichen, physischen Auftritt?

Ich persönlich lehne reine digitale Auftritte für mich und meine Kunst, Musik und Lesungen ab. Ich brauche physisch anwesende Menschen, spürbaren Spannungsaustausch, direktes Feedback, auf das ich reagieren kann. Aber ich habe mir in den letzten Tagen ein paar interessante Internet-Wohnzimmerkonzerte und Livestreaming-Lesungen von tollen Kolleg*innen angeschaut und genossen. Respekt vor jeder und jedem, die und der den digitalen Raum gut für sich nutzen kann!

Womit beschäftigst du dich in dieser Zeit ohne Auftritte, gibt es dennoch Raum für Kreativität?

Ich schreibe Songs und Gedichte, halte meine Flossen auf den diversen Instrumenten fit und habe sogar wieder angefangen, mehr Klavier zu spielen – Notenliteratur, die ich zuletzt als Kind angeschaut hatte. Mit meinem Freund Freddy Fretless habe ich letztes Jahr eine CD aufgenommen, diese Songs gehen wir jetzt noch einmal durch, um bereit zu sein, sobald es wieder Auftrittsgelegenheiten gibt. (Die CD mit Türmer-, Münsterliedern und einem Chanson gemeinsam mit der tollen Sängerin und Schauspielerin Christiane Hagedorn kann übrigens direkt bei mir per Mail an martjesalje@icloud.com bestellt werden, das nächste Weihnachten kommt bestimmt, wo man ein solches Geschenk brauchen könnte!) Auch die anderen neuen Projekte ruhen derzeit, aber wir schreiben weiter am Programm und tauschen uns per Mail und Messenger aus - Surftipp: De Plattköppe, Songs up Platt, www.plattkoeppe.de). An meinem Türmer-Buch schreibe ich auch gelegentlich weiter, darin trage ich alles zusammen, was ich über meine Vorgänger auf St. Lamberti finden konnte, kleine und große Informationen über die interessanten Persönlichkeiten der Türmer von Münster. Das Buch wird aber noch etwas Zeit brauchen, da ich ganz genau und besonders schön schreiben möchte, es ist ein recht ehrgeiziges Langzeit-Projekt. 

Ist die mittelalterliche Zahlenmagie gerade ein Thema für dich?

Immer! Morgens freue ich mich auf die abendliche Turmzeit, und die Mystik der Zahlen beginnt mit dem Aufschließen der Turmtür: Jede Stufe hinauf wird gezählt. Meditation pur. Oben erhält jedes Signal zur vollen und halben Stunde seine eigene Bedeutung – die Hohe Kunst des Tutens; die 3 ist Bestandteil jedes vollen Friedenssignals, Glaube, Liebe Hoffnung UND: Vater, Sohn, Heiliger Geist … das ist ungemein tröstend. Tuten tut gut!

www.tuermerinvonmuenster.de
www.martjesalje.blog

Interview:
Christa Farwick, Autorin
»Das Münsterbuch. Der Stadtführer.«


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