Von Volker Hentig, 14.10.2020
Fliegen, damals, gestern - und morgen
1964. Das kleine Mädchen steht am Rand des Flugfeldes in Frankfurt. Nur ein einfacher Gitterzaun trennt sie vom Geschehen. Drüben wird eine Super-Constellation zum Start fertig gemacht. Ein Flugticket nach New York kostet beiläufig 1200 USDollar, mehr als 2000 D-Mark. Heute ist ein massives Stahlgitter mit viel Nato-Stacheldraht an dieser Stelle, so ein schneller „Blick im Vorbeigehen“ nicht mehr möglich, ein Video-Auge würde sie registrieren und nicht Papas Kodak Retina mal eben ablichten. „Ach wer das doch könnte, nur ein einziges Mal“, Victor Blüthgen, (1844-1920) schrieb das Kindergedicht vom Flug mit dem Drachen. Möglich war es nun geworden, doch nur wenige konnten es sich leisten.
Damals - zweieinhalb Millionen Flugbewegungen auf dem Frankfurter Flughafen
Am Anfang der „Neuen Lufthansa“ in den Fünfziger Jahren stand der Erwerb von einigen wenigen Convair 240, zweimotorigen amerikanischen Kurzstreckenflugzeugen zur Bedienung innerdeutscher und innereuropäischer Flugstrecken, soweit wie von den Alliierten erlaubt (!). Maximal 44 Passagiere wurden mit gut 450 km/h ans Ziel gebracht, Standardflugfläche vier- bis fünftausend Meter, die nach etwa 15 Minuten Steigflug erreicht wurden.
Mein erster Flug von Hannover nach Frankfurt mit einer C 240 bleibt mir in Erinnerung. Das begann mit dem Gänsemarsch der Passagiere zur wartenden Maschine, voranschreitend eine bildhübsche Groundhostess. Herzliche Begrüßung an Bord durch eine möglicherweise noch hübschere Stewardess. Platznehmen im gemütlichen Flugsessel. Aber dann ging’s los. Anspringen der Motoren mit dumpfen Knallen von Fehlzündungen und schwarzen Abgaswolken. Dröhnen der beiden schweren Motoren, das ganze Flugzeug bebt, rennt über die Startbahn und hebt, wunderbares Gefühl, ab. Langsam. Der Horizont kippt, erstes Erschrecken – ach so, Kurve.
Das Dröhnen hört überhaupt nicht auf, gleich der erste Hüpfer über eine niedliche Wattewolke, endlich, endlich wird das Motorengeräusch leiser, Verständigung in halbwegs normaler Stimmstärke mit dem Nachbarn wird möglich. Die bild…. Stewardess spricht ins Mikrofon und bittet uns, oh weh, doch angeschnallt zu bleiben, weil wir demnächst eine „Zone heftiger Turbulenzen“ durchfliegen würden und, bitte, auch das Rauchen einstellen.
Schräg voraus ist eine graue Wolkenbarriere zu sehen und schon beruhigt der Kapitän „wir überfliegen in wenigen Minuten in etwa 3000 m Höhe Kassel, das links unter uns liegt, im Mittelgebirgsstau wird es gleich etwas ungemütlich werden, aber das dauert nur wenige Minuten, in Frankfurt regnet es zur Zeit“. Es wird schlagartig finster. Der Vogel bockt, schwankt, rutscht abwärts und gleich wieder aufwärts, die Motoren dröhnen mit wechselndem Ton durch die Wasserfälle, die sich waagerecht an den Fenstern entladen. Mein Nachbar hat die Augen geschlossen, schläft er?
Endlich ist die Tortur zu Ende, Landeanflug. Sonne glänzt auf den Wolkengebirgen ringsum, aber gleich geht es kontinuierlich bergab, in eine grauweiße Schicht unter uns, dann sind wir drin und durch, Dächer und Bäume scheinen ganz nah, es rumpelt, „Fahrwerk“, sagt mein Nachbar. Wieder peitscht ein Regenschauer gegen die Fenster, die Lichterkette der Bahnbefeuerung rast vorbei, das Flugzeug schwankt heftig, plötzlich donnern die Motoren wieder heftiger, ein kleiner Schlag von unten, es torkelt, zweiter Bums, mir, der das atemlos angstvoll registriert, ganz unerklärlich, der Nachbar reißt die Knie hoch, kippt mit dem Oberkörper nach vorn, verschränkt die Hände hinter dem Kopf – was ist das jetzt?
Es dröhnt und dröhnt, das Torkeln hört auf, die Lichterkette versinkt, wir fliegen wieder. Der Nachbar richtet sich auf. Ich schaue ihn fragend an. „Sind Sie schon öfter geflogen?“ „Ja, ich bin Pilot – das eben war touch and go, hätte schief gehen können. Hat der Kollege gut gemacht!“ Die zweite Landung nach einer langen Kurve ist kaum zu bemerken, der Regen hat aufgehört. Ich beschloss, nicht so bald wieder mitzufliegen und dachte, wenn das häufiger so ist, brauchen sie wirklich sehr hübsche Stewardessen.
Gestern – Frankfurt registriert 2019 90 Millionen Flugbewegungen.
Hunderte Male bin ich seither geflogen. Manche Stewardessen sind immer noch sehr hübsch, aber ihr Job macht sie cool und emsig, viele Passagiere, kurze Flugzeiten. Das Hüpfen in den Wolken ist selten geworden, wir fliegen über dem Wetter. Längst dröhnen keine Sternmotoren mehr, kein Zigaretten- oder Zigarrenrauch beißt mehr in die Augen, über bordeigene Bildschirme oder den Laptop hüpfen Bilder und Texte. Security an den Eingängen müssen wir allerdings in Kauf nehmen und gelegentliches Schuhe-Ausziehen. Buchen können wir über den Computer und von Frankfurt nach New York dauert es nicht mehr 16 Stunden. Wetterradar, ausgefeilte Landesysteme, Satellitennavigation, alles das machte Fliegen sicherer. Ich fliege, nein flog, gerne, „Über den Wolken“, Und nun?
Morgen –
Die Touristenscharen, verführt durch niedrige Ticketpreise und Direktflüge zu den schönsten Orten der Welt werden nur dann wachsen, wenn chinesische Fluggäste die Europäer und Amerikaner ablösen, Geschäftsreisen werden durch Videokonferenzen ersetzt, die Business-Class wird schrumpfen. Hunderte Flugzeuge sind schon gegroundet, die Riesencarrier sind nicht mehr zu füllen. Mit Schrecken denke ich daran, als ich vor Jahren in Zürich am Flugfeldrand in Kloten vorbei ging und hinter dem Grenzzaun Dutzende Leitwerke mit dem Schweizerkreuz von nebeneinander abgestellten Maschinen sah. Swissair war Pleite. Wer ist der Nächste jetzt? Ryanair, Lufthansa….
Unbeschwert werden wir nicht mehr fliegen können. Zu viel wissen wir über die Schäden, die in der Atmosphäre entstehen, den Verbrauch von Treibstoff, den Ressourcenverbrauch beim Bau und dem Betrieb der Flugzeuge. Wieder einmal die Frage: Vernunft erst wenn‘s weh tut? Vor hundert Jahren, als die „Bremen“ und die „Europa“ 5 Tage für die Reise in die Neue Welt unterwegs waren, reichte das doch auch. Wer zu schnell sein will, kollidiert nicht nur mit der Vernunft, sondern auch mit einem Eisberg. Aber das ist eine andere Geschichte.