Von Volker Hentig, 09.03.2022

Ich weine

Ich schrieb in den letzten Jahren allerlei Beiträge für die Na Dann. Leichte, nachdenkliche. Heute ist es ernst geworden. Längst verschollene Erinnerungsbilder tauchen in mir auf. Aus Bombennächten und -tagen, dem Fronteinsatz im sterbenden Berlin, an die Berichte meiner Frau, fliehend zwischen russischen Panzern und unter dem Beschuss amerikanischer Jagdbomber.

Ich wollte wissen, wie es damals zu Hitlers Krieg gekommen war, wie er sein Volk manipuliert und auf seinen Krieg vorbereitet hatte, und las viel dazu. Und „nebenan“ sehe ich nun die gleichen Wege, die Argumente, die Lügen, die Repressionen. Ich habe selber erlebt, zu welchen mörderischen Überfällen, Fehleinschätzungen, menschenverachtenden Aktionen ein in die Enge getriebener Diktator fähig ist. Und ich bin entsetzt über große Worte und falsche Reaktionen der „freien Welt“, in der wir so lange lebten.

Wie kann es sein, dass ein europäischer Staatspräsident erstaunt ist, dass Putin „die ganze Ukraine“ will? Er hat es doch oft genug gesagt und auf der Krim gezeigt, wie es geht. Wer sind die Politiker, die verwundert sind darüber, dass er das mit allen Mitteln erreichen will, auch mit denen, die man bisher für „undenkbar“ hielt? Hält die moralische Verurteilung, der ich mich absolut anschließe, der Realität stand? Ist der tapfere Widerstand eines Teils der ukrainischen Bevölkerung gegen einen militärisch heillos überlegenen und bedenkenlosen Feind – Putin und seine Clique – nicht ein ehrenwerter Selbstmord?

1945 Flüchtlingsfamilie aus Schlesien, gestrandet in Berlin, Anhalter Bahnhof.

Es war einmal – Der polnische Außenminister Beck sagte im August 1939 ,wenige Tage vor dem deutschen Überfall, dem britischen Gesandten, Polen wolle nicht verhandeln und es könne schon sein, dass Polen seine staatliche Existenz verlöre, nicht aber seine Ehre. Also ging Polen nicht auf das erpresserische deutsche Verhandlungsangebot ein. Am 1.Sptember 1939 überfiel die Wehrmacht Polen mit weit überlegenen Kräften. Tapfer und ehrenwert und absolut aussichtslos kämpften polnische Soldaten gegen die Übermacht. Kavallerie gegen Panzer. Nach drei Wochen war der ungleiche Kampf zu Ende. Warschau lag in Trümmern, Zehntausende waren auf der Flucht. Das einst Preußen zugehörige, von den Siegern des 1. Weltkriegs Polen zugeschlagene Westpreußen, die Provinz Posen, Danzig, wurden in das Reichsgebiet re-integriert. Ein Restpolen blieb, eingequetscht zwischen der Sowjetunion und Deutschland, das Generalgouvernement mit einem deutschen Besatzungsregime.

Nun, 2022 – Man kann Namen austauschen, beispielsweise statt Hitler Putin, statt Warschau Kiew, statt Posen und Westpreußen Lubjansk, Donezk, und statt Restpolen Restukraine. Was folgt daraus? Die „westlichen“ Politiker ignorierten die Geschichte. Das Regiebuch lag auf dem Tisch, man hätte zurückblättern können. Was bewirkt der von Selensky so bravourös befeuerte Widerstand? Den Tod von unzähligen ukrainischen (aber auch russischen) Männern, die Flucht von Tausenden, überwiegend Frauen und Kindern, Hunger und Elend für die Zurückbleibenden¸ die Zerstörung von Wohnungen und Kulturgütern, überlebenswichtiger Infrastruktur. Nicht zuletzt auch die Gefahr einer Nuklearkatastrophe und Konfrontation mit der NATO.

Viele hier demonstrieren für den Frieden. Ihre Regierungen aber schaffen Granaten und Bomben und Raketen hinüber in die Ukraine. Sie werden töten. Sie werden den Krieg verlängern. Er wird immer grausamer werden. Unerbittlich immer mehr Opfer fordern. „Frieden schaffen ohne Waffen“ – längst vergessen die einen Deutschen ? „Schwerter zu Pflugscharen“ die anderen Deutschen ? Hat die Wiedervereinigung alles zugeschüttet? Den Flüchtenden helfen, ja, keine Frage. Den Krieg verlängern? Um Gottes Willen nicht! Ich weiß, was Krieg ist und was nach seinem Ende an Trümmern bleibt, seelischen, körperlichen, materiellen, welche Trostlosigkeit um sich greift, welche Traumata zurückbleiben, was es heißt, wenn Millionen Flüchtlinge, Obdachlose, Hoffnungslose ein Land bevölkern. Ich bin einer von ihnen, meine Frau ist eine von ihnen.

Berlin 1946 als alles vorbei war: Trümmer räumen

Ich höre im Rundfunk, Demonstranten forderten, mehr Waffen, wirksamere, in die Ukraine zu schicken. Haben sie nicht begriffen, dass sie sich damit schuldig machen? Sie stellen die „geostrategischen“ Überlegungen von Politikern, die weit entfernt das Szenario betrachten und denen ihre Welt nicht um die Ohren fliegen wird, über das tätige Mitleid, das sie empfinden und mit dem Spenden von Geld und Kleidung und mancherlei anderen Hilfen beweisen. Die traurige Wahrheit war und ist: entweder im bedrückenden russischen Besatzungsregime zu leben, nationale Identität im Stillen zu bewahren, das hätte Kapitulation am Anfang bewirkt, - oder zerrissene Familien, tote, verwundete oder in Gefangenschaft lebende Männer, verlorene Heimat (die Flüchtlinge von 1945 kamen nie wieder nach Hause, die von 2022 werden es auch nicht) um den Preis eines am Ende doch verlorenen Krieges. Ich weine.

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