Von Honest John, 30.08.2023

Zum 100. Geburtstag von Dexter Gordon

DER SANFTE RIESE MIT DEM SAXOPHON

Während meiner Zeit als Militärkapellmeister in der Buller-Kaserne hier in Münster: Es war uns nicht gestattet, mit lokalen Musikern aufzutreten oder überhaupt als Musiker an lokalen Veranstaltungen jedweder Art teilzunehmen. Für mich und zwei meiner Kollegen, Michael Maddox an der Trompete und Martin Stroud an der Posaune, kamen diese Regeln allerdings nicht in Frage. Wir drei wollten die beste Bläsersektion überhaupt bilden, und genau dieses Ziel konnten wir nur über die Einbindung lokaler Musiker erreichen. Früher hatten wir an den Wochenenden so viele geheime Sessions wie möglich im Bandblock, und die einheimischen Musiker, die vorbeikamen, waren zahlreich. Unsere damaligen Idole waren die Horngruppe der Brecker Brothers und die von Earth Wind & Fire. Wir bekamen insbesondere  Angebote von Bluesbands und dergleichen. Was bewies, dass unsere militärischen Stakkato-Zungentechniken ziemlich gut geklungen haben müssen! An diesem Wochenende brachte Doc Heiner (yes, you heard right, and Steffi Stefan, David Handsley and Jochen Weller used to come along too) einen neuen Schlagzeuger namens Mike Oberton mit, dessen Stil ich von Anfang an sehr ansprechend fand. Bei dieser einen so besonderen Gelegenheit - nachdem ich wohlbemerkt ein Solo auf meinem Tenorsaxophon gespielt hatte - stand er von seinem Schlagzeughocker auf und reichte mir den Hut, den er damals trug und den ich meinerseits heute noch trage, und zwar begleitet von den Worten: „Gut gemacht, Stan Getz-Keise"! Ich war wirklich verblüfft über diesen Kommentar. Denn Stan war zu dieser Zeit überhaupt nicht mein Lieblingssaxophonist, es war Dexter Gordon, also was zum Teufel hatte ich falsch gemacht, ha ha ha!

Für diejenigen unter Ihnen, die wenig oder gar nichts über Jazz wissen, möchte ich versuchen, es zu erklären: Es spielt keine Rolle, welches Instrument Sie wählen, aber eines der ersten Dinge, die Sie haben, wird ein Lieblingsmusiker sein. In meinem Fall war - neben dem Tenorsaxophon als bevorzugtem musikalischem Ausdrucksmittel - zu dem damaligen Zeitpunkt gerade auch Dexter Gordon mein Lieblingsmusiker auf diesem Instrument. Was Sie dann tun ist, sich jede Aufnahme dieses Musikers anzuhören, die Sie in die Finger bekommen, denn auch Sie möchten genauso klingen wie er. Sie werden auch versuchen, das gleiche Setup des verehrten Musikers zu erhalten, und in diesem Fall war es ein Selmer Mark VI-Tenorsaxophon mit einem Otto-Link-Mundstück Nr. 8. Du verbringst dann Stunden damit, exakt diesen einen Klang nachzuahmen, aber nach einer Weile wirst du merken, dass du, egal wie sehr du es auch versuchst, nie wie dein Held klingen wirst, weil diese nun einmal ihre eigene Stimme haben. Wenn Du die ganze Zeit damit verbringst zu versuchen wie Dexter zu klingen,wird das nie funktionieren. Und hier sind einige Gründe dafür: Dexter Gordon (27. Februar 1923 – 25. April 1990) wurde zu seiner Zeit jedenfalls zur Jazzlegende.

Sein Vater, Frank Gordon, war einer der ersten afroamerikanischen Ärzte in Los Angeles, und zu seinen Patienten gehörten u.a. Duke Ellington und Lionel Hampton. Dexter selbst begann mit 15 Jahren, das Tenorsaxophon in Angriff zu nehmen; bereits mit 17 Jahren war er in der Bigband von Lionel Hampton zu hören. Er spielte eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der Bebop- und Hardbop-Bewegungen der 40er Jahre, wechselte aber schnell in die moderne Jazz-Ära, wo er einen neuen Standard für das Tenorsaxophonspiel etablierte. Seine Musik und sein reiches Aufnahmevermächtnis haben ihre Anziehungskraft auf mehrere Generationen von Jazzfans aufrechterhalten. Sein Spiel war kontrolliert, kenntnisreich und mitreißend.

Es gab viele Aspekte in Dexter Gordons Leben, die ihn zu einer überlebensgroßen Figur machten. Was entsteht, ist das Gefühl eines afroamerikanischen Mannes, der die Demütigungen der Rassentrennung und der Drogenabhängigkeit mit Anmut, Hoffnung, Einfallsreichtum und Integrität überlebt hat. Der überwältigende Eindruck von Dexter, dem Menschen, ist jemand, der fällt, aber immer wieder aufsteht; der Fehler hat, diese aber überwindet, der seine Würde auch unter schwierigsten Umständen bewahrt, der über die Schwierigkeiten des Lebens nachdenkt, aber immer hoffnungsvoll und bereit ist, sich der nächsten zu stellenden Aufgabe bzw. Herausforderung zu widmen. Wie bei so vielen anderen Jazzmusikern dieser Zeit wurde sein Leben aufgrund seiner Verbindung mit der damaligen Droge Heroin zu einer Achterbahnfahrt aus Auftritten, anstrengenden Roadtrips und gemischten Inkarnationsperioden. Als wollte er ein neues Leben beginnen und dem Alltag in Amerika entfliehen, zog er 1961 nach Copenhagen.

In einem neuen europäischen Kontext, in dem Schwarze als Gleichberechtigte und Jazzmusiker als angesehene Künstler behandelt wurden, reifte er sowohl als Musiker als auch als Mensch heran, obwohl ihm seine Sucht und andere persönliche Probleme manchmal im Weg standen. In Kopenhagen, Paris und anderswo arbeitete er mit den besten Musikern seiner Zeit zusammen, darunter Ben Webster, Bud Powell, Kenny Drew, zu nennen auch der dänische Bassist Neils-Henning Orsted Pederson sowie weitere, von denen viele sich mit ihm bei Dexters Lieblingslokalität einfanden, bezeichnenderweise dem Jazzclub Montmarte in Kopenhagen. Nach seiner endgültige Rückkehr nach New York im Jahr 1976 erlebte Dexter eine Zeit der Zufriedenheit, des finanziellen Erfolgs und der musikalischen Berühmtheit. 1985/86 sollte sich sein Leben völlig verändern, als ihm aus heiterem Himmel die Hauptrolle in Bernard Taverniers ikonischem Film “Round Midnight“ über das Leben eines in Paris lebenden Jazzmusikers zugesprochen wurde. Mit vielen Aspekten der Geschichte aus eigener Erfahrung vertraut, war sein Schauspiel so atemberaubend und natürlich, dass es ihm bei der Oscar-Verleihung 1986 eine Oscar-Nominierung als Bester Hauptdarsteller einbrachte. Und um das Ganze abzurunden, gewann er darüberhinaus einen Grammy für seine Mitarbeit am Soundtrack des Films, der von Herbie Hancock geschrieben wurde.

Wir alle sollten uns Dexter Gordons an seinem 100. Geburtstag erinnern, denn er war eine herzliche, sympathische und charmante Persönlichkeit, und er spiegelte dies in seinem Spiel authentisch wider wie kein anderer zuvor oder nachher. Seine melodische und horizontale Herangehensweise an das Solospiel macht ihn zu einem äußerst zugänglichen Musiker, der auf folgendem romantischen Ethos basiert: „Wenn man den Text eines Liedes versteht, hat man einen gewissen Einblick in seine Komposition. Wenn man nicht versteht worum es geht, ist man nicht wirklich fähig, das Gedicht zu vermitteln.“ (Dexter Gordon). Sie berauben sich selbst der Fähigkeit, dieses Gedicht wirklich vermitteln zu können. Dexters Sound ist an seinen konsistenten, natürlich fließenden Linien und einer entspannten Interpretation von Beat und Rhythmus sofort erkennbar, vor allem an seinem berühmten warmen, breiten Ton und einer Lautstärke, die zu seiner 2,10 Meter großen Statur passt.

Dexter Gordon – Our Man In Paris 1963

www.youtube.com/watch?v= QazbdfH6NI0

(Honest John, August 2023)

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