Von Günter, 19.08.2020

TAGEBUCH/ DREAMERS‘ CIRCUS/ DIE LETZTEN OSTGOTEN/ FLORIAN ROSS QUARTET/ KAMAAL WILLIAMS

Start mit Faktencheck. Falsch ist, dass der (als Beispiel) erwähnte Musiker Ryan Lee West, aka RIVAL CONSOLES , für ein einmaliges Abspielen eines Songs bei youtube 0,0069 (amerikanische) Cent bekommt. Schamlos übertrieben. Er bekommt 0,00069 Cent, bedeutet, schon nach gut 1450 Aufrufen kriegt er 1 Dollar. Ist bei anderen Streaming-Diensten auch nicht viel besser, also, wenn schon, dann wenigstens Dauer-Rotation (Repeat).
Eigentlich gar nicht mein Buchstabe, aber Carmen Eder und Gerhard Schmitt haben sich als TAGEBUCH mit einigen Freunden (Inspiranten) mit „Anders immer Anders“ so viel Mühe, auch mit den Details, gegeben, dass ich sie hier doch erwähne. Sie singt in erster Linie, er spielt fast alle Instrumente, lediglich Streicher und Drums überlässt er den Gästen. Deutsche Texte, vertretbares ‚Reim’Dich oder ich fress Dich‘, vorwiegend um oder über Liebe, nicht platt formuliert und mit ausgebildeter, kräftiger Stimme überzeugend intoniert. Klare, schlanke und gut klingende Produktion, ‚richtige‘ Instrumente mit entsprechend gut trainierten Handwerkern. Werden sich in der Umgebung von Ina Müller wohlfühlen.
Gut gewählte und vorgetragene Worte sind die eine Seite, eine besondere Stimmung, ein Gefühl, kann jedoch auch ganz ohne Worte in der Musik transportiert werden. Beispiel: DREAMERS‘ CIRCUS. Die drei Herren bedienen zusammen 15 Instrumente. Nein, nicht alle gleichzeitig, sondern dem Charakter des Songs entsprechend ausgewählt. Auf „Blue White Gold“ versammeln sie 12 selbst geschriebene oder arrangierte Titel, die im wesentlichen durch die nordische Tradition gefärbt sind. Mit ihren vorwiegend akustischen Instrumenten schaffen sie beinahe meditative Stimmungen, inspiriert durch ihr mit offenen Augen (Sinnen!) die Welt um sich herum wahrnehmend.

Urig modern

Auf einem ganz anderen Teich paddeln DIE LETZTEN OSTGOTEN mit ihrer „Höhlenmalerei“. Nach Jazz (zitiert aus dem ‚Waschzettel‘) riecht das für mich nicht wirklich. Aber der Ansatz ist spannend. Sie versuchen rückblickend sich von entsprechenden Höhlenmalereien inspirieren zu lassen. Gab es da schon Musik? Wie mag sie geklungen haben? Mit seltsam klingender mittelalterlicher Sprache zu modernen Rhythmus-Geräten und -Strukturen plus konventionellem Instrumentarium passen sie zwar sicher gut auf jedes Mittelalter-Fest, sind jedoch musikalisch mit ihrer Zeitreise meilenweit von den üblichen verdächtigen KollegInnen entfernt.


Jazzige Kammermusik

Zeitgenössischer Jazz aus Deutschland, zwischen komponiertem Einklang und expressiver Improvisation. Bietet das FLORIAN ROSS QUARTET auf seiner Live CD aus dem Kammermusiksaal des Deutschlandfunks in Köln unter dem Titel „Reason & Temptation“. Mit dem Namensgeber am Piano plus Sax und Rhythmusgruppe belebt das Quartett die von ihm oder der Gruppe vorgegebenen Themen durch ausgesprochen sensibles Zusammenspiel in gebremster Lautstärke. Niemand drängt in den Vordergrund, kein Erheischen von Aufmerksamkeit sondern intensives gemeinsames Arbeiten am kollektiven Ergebnis. Aufnahmeort sehr passend gewählt!


Visionär?

Jazz Visionär (zitiert) ist eine gewagte Einstufung. Auf jeden Fall präsentiert KAMAAL WILLIAMS auf seinem neuen Album „Wu Hen“ seine sehr individuelle Variante. Von Streicher-Unterstützung, Funk- und anderen Groove-Elementen durchsetzt bis zu sprechenden und singenden VokalistInnen findet Improvisation und zeitgemässer Jazz genauso statt. Die Mischung ist gewagt, wird aber tragfähig zusammen gehalten durch die versiert miteinander kommunizierende Combo, die ohne Streuverluste von frickeligen Jazz-Passagen zu fast sentimentalen Soul-Balladen wechseln kann. Funkt vielleicht nicht beim ersten Durchlauf, deshalb ‚Repeat‘ (s.a. Anfang der Seite) und keine Wunder erwarten, sondern einfach aufmerksam zuhören.


Archivtexte Ohrenschmauch

Günter Günter

Beiträge 2020