Von Günter, 14.12.2022

FRANCESCO LOCCISANO & ANDREA PICCIONI/ ILJA RUF & BERND KONRAD/ MARIO LUCIO/ SELINA MARTIN/ KAROLINA/ RÖYKSOPP

Durch ein Dutzend selbst gestrickter Instrumentals, die zum grossen Teil aus Momenten oder Anleihen aus traditioneller italienischer Folklore stammen, führen FRANCESCO LOCCISANO & ANDREA PICCIONI auf ihrer CD „Upgrade“. Lediglich auf 3 Titeln ergänzen sie ihr Duo durch je 1 Gast. Francesco begleitet dynamisch auf der akustischen Gitarre, während Andrea erstaunliche Rhythmen mit seiner Handtrommel erzeugt, auf einigen Titeln per Synthi erweitert. Das klingt nur sehr wenig nach Tradition, vielmehr nach grosser musikalischer Handwerkskunst und dem Wunsch und Versuch diese seit Jahrhunderten genutzten Instrumente als trotz allem modern und zeitgemäss zu präsentieren.

Ein weiteres ungewöhnliches Duo: ILJA RUF & BERND KONRAD, Klavier und Saxofon, Ilja 21 Jahre alt, Bernd 75. Da harmonieren 2 Jazzwelten im freien Zusammenspiel, ohne Probe, ohne konkretes Notenblatt. „Utopia - Dialogues in Jazz“ ist der passende Titel für diese Disc, deren 8 Tracks zwischen kontemplativer Ruhe und expressiven Ausflügen hin und her reisen. Nicht unbedingt konsumfreundlich, keineswegs ‚schräg‘ oder schrill, dafür aber sehr ausdrucksstark.

Mario Lucio – Kap Verden international

Einen ex-Minister für Kultur, der auch als Musiker aktiv ist, kannte ich bisher nur aus Brasilien. MARIO LUCIO von den Kap Verden gesellt sich mit „Migrants“ dazu. Unterstützt wird er bei diesem Werk von jungen portugiesischen Produzenten, die dem typischen Sound der Inseln sehr behutsam einen internationalen Touch verleihen. Mit vielseitiger Stimme zur traditionellen Instrumentierung widmet Mario diese Platte allen Menschen, die auf ihrer Flucht zulande oder Wasser ihr Leben verloren haben. Die Produzenten ergänzen die Klänge zurückhaltend intim, lassen etwas Brasil oder portugiesische Saudade durchscheinen.

Selina Martin – Harmonisches Experiment

Über einem für Singer/SongwriterInnen ungewöhnlichen Background breitet SELINA MARTIN ihren ebenso eigenständigen Gesang aus. Samples, Field Recordings, Synthis und konventionelle Instrumente fügt sie auf „Time spent Swimming“ zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Fliessende, eingängige Songs mit unerwarteten Rhythmen und trotzdem eingängigen Refrains. Auch nach mehrfachem Hören ist kein wiederkehrendes Strickmuster zu erkennen. Betörende Balladen, psychedelische Klänge, Geräusche, kombiniert mit ihrer ausdrucksstarken Stimme, damit bewegt sie sich mindestens in der Liga von Björk oder P.J. Harvey. Zusätzlich für Sound-Freaks auch noch in Dolby Atmos abgemischt, also 3D für die Ohren.

Karolina – Kurz und bündig!

Eine weitere faszinierende Stimme für diese Seite: KAROLINA mit ihrem ersten englischsprachigen Werk „All Rivers“. Auch die Musik auf diesem Album lässt sich keinem Genre zuordnen. Mal schrammt sie stimmlich knapp an Billie Holiday vorbei, dann mit bestimmten Tonfall wie Erykha Badu oder auch mit Afro-Touch. Dabei bleibt der musikalische Background immer sparsam und zurückhaltend, und erzeugt abstrahierten Soul, kaum erkennbare Afro-Beats oder Jazz affine Klänge, die durch die Trompeten-Unterstützung von Avishai Cohen (auf 2 Titeln) mitgetragen werden. Mit einigen Gästen, besonders Stimmen, gestaltet sie in 9 Tracks und knapp 27 Minuten ein buntes Kaleidoskop ihrer einfallsreichen Vorstellung von individueller Musik.

Zum 3. Teil kommt endlich die Erwähnung. RÖYKSOPP’s Rückschau auf die gesamte Zeit als Schöpfer intelligenter elektronischer Musik findet mit „Profound Mysteries“ und deren 3. Teil seinen Abschluss. Altes, Wiedergefundenes, neu Geschaffenes, gesammelt auf 3 Doppel-CDs, deren 1. Teil bereits seit Februar in den Regalen steht. Auch nach (sind’s 25 Jahre?) an den Tasten und Knöpfen sind ihnen die Ideen noch lange nicht ausgegangen. Mit vielen Gästen, speziell für Gesang, zeigen sie trotz Rückspiegel enorme Frische.

Archivtexte Ohrenschmauch

Günter Günter

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