Von Stefan Bergmann, 30.08.2017

O tempora, o mores!

O tempora, o mores! donnerte Cicero, als er im alten Rom Umsturz und Korruption witterte. Welche Zeiten, welche Sitten? Nun, wir brauchen dem Klagelied Cicero nicht zu viel Bedeutung beimessen, denn auch Sokrates haderte mit der Jugend: Sie widersprechen den Eltern, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander. Jeder, der ältere Kinder hat, weiß, das Sokrates Recht hat. Noch immer.

O tempora, o mores!

O tempora, o mores konnte auch ausrufen, wer zufällig am Samstag im Hafen war und die Nackedeis auf Ayse Erkmens Unterwassersteg gesehen hat. Hüllenlos, aber ein bisschen bemalt, posierten die Mitglieder der Initiative Aktiver Naturisten auf dem Steg. Sie nannten es Kunst, sprachen von Body-Painting, aber letztlich war es wohl doch nur die Lust an der Provokation. Wer denn gern die Hüllen fallen lässt, kann das für sich oder im Wald tun. Macht er es mitten in der Stadt, dann darf man bestimmt eine gehörige Portion Sensationslust unterstellen. Nun gut. Die "na dann“ ist kein spießiges Blatt, und deswegen drucken wir die Riege mal von vorn.


Wenn es das schon wäre, dann wären wir wohl die Bildzeitung. Sind wir aber nicht. Und deswegen schauen wir mal genauer hin.

Es scheint, das katholische Münster mit seinen vielfältigen Deckmäntelchen über vielerlei kleine und große Abgründe ändert sich langsam. Die Naturisten sind da das eine. Dass sie 2015 schon einmal im Landesmuseum hüllenlos die Ausstellung „Das nackte Leben“ besuchten, war der Auftakt, doch er fand im Geheimen statt. Dass Münster inzwischen einen Christopher Street Day hat, ist erstaunlich. Aus ein paar Buden und Zelten am Aasee wurde ein Aufmarsch, und seit zwei Jahren - als sich das Museum traute, eine Ausstellung namens „Homosexualitäten“ zu zeigen und von den lokalen Granden dafür indignierte Blicke (und heimliches Interesse) erntete - verläuft der CSD-Marsch auch durchs Museum. Hätte sich das jemand vor fünf oder zehn Jahren vorstellen können? Geballte Lebensfreude zwischen westfälischen Porzellantässchen und Stiftskreuzen? Wohl kaum. Die Skulptur-Projekte tun ihr übriges. Wer in diesem Sommer offenen Auges durch Münster geht, sieht eine internationale, gut gelaunte und quirlige Stadt - und man fragt sich, ob es eigentlich ein Zwangsgesetz ist, dass ab dem 10. Oktober wieder die westfälische Miesepetrigkeit und Spießigkeit einzieht in die gute Stube und die Nebenräume. Ok, im Kuhviertel war’s schon immer lustig, aber nur im Semester und nur solange in Destille oder Gorilla-Bar nicht die Sauren ausgehen. Münster ist eine Stadt mit kleinen Sorgen und großen Befindlichkeiten, sagte ein Freund von mir. Recht hat er. Und diese großen Befindlichkeiten haben es jetzt mal verdient, in den Orkus zu wandern.

Das war der Sommer-Sonne-Gute-Laune-Presseausweis. Ich verspreche: Beim nächsten Mal wird’s wieder ernster. Die Bundestagswahl naht. Mal schauen, was natürlich-Sybille und „Hallo-ich-bin-der-neue“-Robert bis dahin dem Wähler alles versprechen.

Archivtexte Presseausweis

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