Von Ruprecht Polenz, 24.01.2018

Welle, Flut, Lawine

Welle, Flut, Lawine - mit diesen Unwetterbildern wird aus hilfsbedürftigen Flüchtlingen eine Bedrohung, gegen die wir uns wehren müßten.

Seit den Sylvesterereignissen von Köln wird jede Straftat von Flüchtlingen als Beleg für diese Behauptung immer und immer wieder zitiert. Die Regeln, die sich die Journalisten im Deutschen Presserat für die Berichterstattung über Straftaten selbst gegeben hatten, werden kaum noch beachtet.

Dort heißt es: „In der Berichterstattung über Straftaten ist darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.“

Wer die Menschen, die 2015 über Ungarn und Österreich bis Passau gekommen waren, in erster Linie als Bedrohung ansieht, verschließt die Augen vor vier Jahren Krieg in Syrien und den dadurch ausgelösten Fluchtbewegungen: über vier Millionen waren aus dem Land geflohen. Dazu kamen weitere 6 Mio Binnenflüchtlinge.

Die sog. Wirtschafts- oder besser Armutsflüchtlinge, die sich unter die Ankommenden gemischt hatten, haben zwar kein Bleiberecht in Deutschland und müssen unser Land wieder verlassen. Aber als „Bedrohung“ würde ich Menschen, die aus anderen Gründen Hilfe suchen, ebenfalls nicht bezeichnen. Zu keinem Zeitpunkt ist ein Land wie Deutschland mit über 80 Mio Menschen durch eine oder zwei Millionen hilf- und wehrloser Menschen „bedroht“.

Bedroht sind wir durch Kriminalität, gleichgültig übrigens, von wem sie ausgeübt wird. Das Problematische an der gegenwärtigen Diskussion ist für mich, dass Flüchtlinge mit „erhöhter Kriminalität“ assoziiert werden. Alle Menschen, die so aussehen, wie Einheimische sich Flüchtlinge vorstellen, werden deshalb mit besonderem Misstrauen betrachtet, nicht mit der Anteilnahme, die sie wegen ihres Schicksals verdient hätten. Die Beweislast wird für Flüchtlinge umgekehrt: Erst wenn sie uns davon überzeugt haben, dass sie ordentliche Menschen sind, sind wir nicht mehr misstrauisch.

Der Normalfall ist andersrum: Wir unterstellen anderen, dass sie ordentliche Menschen sind, es sei denn, sie verhalten sich so, dass wir dieses Urteil korrigieren müssen. Nur auf diesem Vertrauen kann gesellschaftliches Zusammenleben überhaupt gelingen. Eine Unkultur des Misstrauens zerstört jede Gesellschaft.

Wenn wir dieses Misstrauen den Flüchtlingen pauschal entgegenbringen, grenzen wir sie erneut aus. Und gleichzeitig erwarten wir, dass sie sich integrieren.

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