Von , 15.02.2012

Nicht alle, die diesen Presseausweis lesen, werden sich an Edzard Reuter erinnern. Ich erinnere mich gut an diesen drahtigen Intellektuellen, der von Juli 1987 bis Mai 1995 die Daimler Benz AG führte. Ein kluger Mann mit einem losen Mundwerk.

Bei einer Zusammenkunft in New York, in dem es wohl auch um sein mangelhaftes Interesse am Shareholder Value ging, zitiert ihn DER SPIEGEL rückblickend (12/1997) mit den Worten: "Ich habe keine Zeit mir den ganzen Tag zu überlegen, wie ich den Börsenwert der Aktie sexier mache." Nicht dieser Spruch, aber die dem zu Grunde liegende abwertende Haltung gegenüber dem aufkommenden Dauer-Rating des Internationalen Finanzkapitals kostete ihn 1995 vorzeitig den Job. Reuter hatte keine Lust auf Analysten, denen mit Blick auf irgendwelche den Aktienwert steigernde Kennzahlen das Wohl einer vieltausendköpfigen Belegschaft vollkommen egal war. Der Mann hatte meine Sympathie. Wohl deshalb habe ich so aufmerksam zugeschaut, wie er gegen seine mächtigen Shareholder verlor. 1995 wurde er von Jürgen Schrempp abgelöst, der eine neue Manager-Generation verkörperte, die heuerte und feuerte, wie es im Interesse der Shareholder zum Besten war.

Edzard Reuter hatte in einer entscheidenden Phase die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung verkannt. Eine schnell wachsende Internationale Finanzwirtschaft wandelte sich aus der Rolle eines Dienstleisters für die Realwirtschaft zu deren Dominantor mit der vielschwänzigen Peitsche eines allgegenwärtigen Ratings in der Hand. Der Turbo für das atemberaubende Tempo, mit dem sie ihr so genanntes Investment Banking entwickelte, waren die sagenhaften Gewinne, die mit der Zerschlagung und Neu-Zusammenführung kerngesunder Unternehmen erzielt wurden. Der Preis: millionenfacher Verlust gut bezahlter Arbeitsplätze.
Während die 1. Stufe des Investmentbankings in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts auf Touren kam, startete Mitte des Jahrzehnts das Internet mit gewaltiger pornographischer Schubkraft in den weltumspannenden Publikumsbetrieb. Mit der Verbreitung von Bibeltexten wäre die unglaubliche Startgeschwindigkeit nicht zu machen gewesen.

15 Jahre später gibt es online ein breites Inhaltsangebot mit Zugang in 78% aller deutschen Haushalte. Auf der Vernetzung der Individuen setzt die nächste Kulturtechnik auf: Facebook. In Anbetracht ihrer wiederum kaum glaublichen Entwicklungsdynamik lohnt es sich, nach der treibenden Kraft hinter der Bewegung zu fragen: es ist der Narzismus der jugendlichen bis jungen Nutzer/innen und das Geschäft damit. Knapp zwei Jahrzehnte nach Edzard Reuters abweisender Bemerkung über sein alltägliches Ranking ist der Stress einer Dauerbewertung in den Kinder- und Klassenzimmern angekommen. Die Währung für die Bewertung: bist Du auf Facebook und wie viele Freunde hast Du?

Ein Blick auf die aktuelle Nutzer/innen-Statistik zeigt: die erziehungsberechtigte Mehrheit ab Mitte 30 will mit Facebook ganz überwiegend nichts zu tun haben. Wie Edzard Reuter, der für die verantwortungsvolle Leitung der Daimler-Benz AG kein Dauerrating brauchte, glauben viele Eltern, dass sie sich um das zunehmend allgegenwärtige soziale Rating ihrer Kinder nicht kümmern müssen oder können.

Verständlich, aber nicht ratsam: besser wäre es, die neue Kulturtechnik kennenzulernen, um den Kindern und Jugendlichen bei der Verarbeitung einer permanenten sozialen Bewertung in Konkurrenz helfend und regulierend zur Seite zu stehen. - Arno Tilsner

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