Von , 17.10.2012

Unerwartet begegnete mir das vertraute Gesicht einer vergangenen Epoche. Es war Samstag gegen halb 11, als ich auf der Handelsblatt online-Seite Alfred Herrhausen in die Augen schaute. Bis zum Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts waren wir Zeitgenossen in parallelen Welten. Zwischen meiner - mitten im Chaos eines sozialistischen Druck-Kollektivs - und seiner als Deutsche Bank-Vorstand spannte sich bestenfalls ein Nichts als Brücke.

Dennoch gab es etwas, das mich damals an diesem Gesicht, an diesem Menschen faszinierte. Dem nachzugehen blieb keine Zeit. Ich hatte 1989 alle Hände voll zu tun, beim Austritt aus dem Sozialismus meinen Bankrot abzuwenden.

Ihn hat am Morgen des 30. Novembers eine Sprengfalle aus dem Leben gebombt. Ich erinnere mich gut an diesen Tag. Drei andere Namen gingen mir durch den Kopf: Dag Hammarskjöld, der am 18. September 1961 als UN Generalsekretär bei einem ungeklärten Flugzeugabsturz in Afrika starb; JFK, der am 22. November 1963 in Dallas Texas unter mysteriösen Umständen erschossen wurde; und Salvador Allende, der sich vor der Erstürmung des Präsidentenpalastes durch Pinochets Putschisten am 11. September 1973 das Leben nahm. Jeder einzelne dieser politischen Morde hat mir mit einer unsichtbaren Hand den Horizont für Veränderung enger gezogen. Dass Alfred Herrhausen für mich mit in dieser Reihe stand fühlte ich, aber ich verstand nicht warum.

Tanja Langer "Der Tag ist hell, ich schreibe dir"

23 Jahre später lese ich im Handelsblatt an diesem Samstag vormittag über Tanja Langer und ihren Roman "Der Tag ist hell, ich schreibe dir". Wenige Stunden später finde ich mich mitten in der Liebesgeschichte zwischen Julius (alias Alfred Herrhausen) und Helen (alias Tanja Langer), erzählt in Gedankenbildern, wie sie wahrscheinlich nur eine Frau in Worte fassen kann. Helen ist 19 und noch Schülerin, als sie den 30 Jahre älteren Ausnahme-Banker kennen lernt. Es beginnt eine Freundschaft, über die Julius' Frau bei seiner Beerdigung sagen wird, dass Helen seine geistige Tankstelle war. Zwei Menschen, die sich so herzlich aus der Ferne geliebt haben, dass es mir noch heute beim Lesen die Sprache verschlägt.


In den scharfen Umrissen einer groben Skizze sehe ich, warum Julius für mich in der Gesellschaft der drei oben genannten steht: Hammarskjölds Tod machte den Weg frei, die Rohstoffe des Kongo wohlfeil unter westlichen Minengesellschaften zu verteilen; nach seiner Ermordung stand JFK der Eskalation des Vietnam-Krieges nicht länger im Wege und Allendes Körper war noch nicht kalt, als in Chicago die Schüler von Milton Friedman sich auf den Weg machten, um in Chile das erste Experiment einer neoliberalen Gesellschaftsordnung zu erproben.

Aus der Zerschlagung gesunder Unternehmen oder der Spekulation auf den Untergang von Volkswirtschaften ein Ertragsziel von über 20% zu formulieren, wäre mit Alfred Herrhausen an der Spitze der Deutschen Bank wohl nicht möglich gewesen. 4 zufällige Morde, oder doch Teile einer Matrix in dieser nicht zu Ende denkbaren Welt? - Arno Tilsner

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