Von , 01.05.2013

ICH, ICH, ICH! Zweifelsohne erlebte das ICH in den letzten vier Jahrzehnten eine nie da gewesene Blütezeit. Am Ende des kalten Krieges hatte nicht nur der Kapitalismus den Sozialismus besiegt, es hatte auch das ICH über das WIR triumphiert. In Folge dessen steuern heute Psychologen den Globus, nicht Philosophen.

Dabei könnten gerade jetzt klare Worte aus den philosophischen Seminaren für eine uns alle weiter bringende Selbsterkenntnis sorgen: ICH ist eine Errungenschaft aus dem WIR. Anders ausgedrückt: erst nachdem WIR-Gesellschaften sich zu Hochkulturen entwickelt hatten, konnten Individuen in ihnen als exzellente Hochbegabte und sogenannte Leistungsträger glänzen. Tatsächlich verdrängte ICH-ICH-ICH in wenigen Jahrzehnten jede andere Philosophie.

Von den entpolitisierten Universitäten aus leuchtet dieses Irrlicht über Mattscheiben bis in den letzten Winkel jeder Kinderstube. ICH ist nicht nur ICH-SELBST, mit voller Selbstbezogenheit sorgt ICH für SEINE Kinder. Wenn Gesellschaften nicht mehr als unersetzlicher Lebensraum erlebt werden, in dem Individualität sich erst entfaltet, ist es nur folgerichtig, dass Abgaben an die Gemeinschaft als Zwangsabgaben erscheinen, die es zu vermeiden gilt.

Kirschblüte

Am Tag vor dem 1. Mai noch ein Gedanke dazu: WIR in Gesellschaft sind auch unsere Bienen. Wenn die industrielle Landwirtschaft mit ihrer mörderischen Zwangs-Effizienz das letzte Bienenvolk gekillt haben wird, ist es zu spät für die Erkenntnis, dass man die Kirschblüten im Land nicht von Zeit-Arbeiter/innen bestäuben lassen kann. Die Welt hat sich in Jahrmillionen unglaublich vielfältig und effizient organisiert. Es macht keinen Sinn, diese Vielfalt durch menschliche Einfalt zu ersetzen. - Arno Tilsner


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