Von Manni, 01.07.2020

Grüße von der Insel #12

„Tränen kreist der Raum!“
(mex) In den vergangenen Wochen habe ich einen Münsteraner kennengelernt, dessen Existenz mir zuvor zwar nicht völlig unbekannt war, dessen exorbitanter Beitrag zur deutschen Literatur aber bislang in meinem, ohnehin alles andere als flächendeckenden Bewusstsein für die Großartigkeit der Künste, bei weitem nicht auch nur einen annähernd ausreichenden Raum eingenommen hat. Die Rede ist, das hier schon einmal vorweg, von August Stramm. Initiiert hat die unerwartete aber nun glücklicherweise endlich vollzogene Entdeckung der Besuch eines wirklich außergewöhnlichen Friedhofs.

Südwestkirchhof Stahnsdorf, Friedhofskapelle

Der brandenburgische Südwestkirchhof Stahnsdorf liegt unmittelbar vor den Toren Berlins und gehört mit seiner mehr als 200 Hektar Gesamtfläche zu den zehn größten Friedhöfen der Welt. Eröffnet wurde er im Jahre 1909, eine eigene S-Bahn-Line zum Anschluss an die Hauptstadt folgte 1913, der kreative Volksmund fand dafür schnell die Bezeichnung Leichen- oder Witwenbahn. Die deutsche Teilung beendete 1961 den beständigen, seit 1928 elektrifizierten Transport von Hinterbliebenen, Trauernden und Särgen. Bis dahin entwickelte sich das Gelände zu einem Friedhof für Mitglieder verschiedenster Konfessionen und, wegen der guten Anbindung nach Berlin und der attraktiven Waldlage, ab den 20er Jahren zu einer stark nachgefragten Ruhestätte für prominente Persönlichkeiten. Geschichte spiegelt sich in Stahnsdorf. Die italienische und die britische Regierung richteten nach dem ersten Weltkrieg Ehrengräber für in deutscher Kriegsgefangenschaft verstorbener Landsleute ein, das Land Berlin pflegt sie bis heute. Adolf Hitlers und Albert Speers Welthauptstadtfantasien, nicht folgenlos für das Fortbestehen einiger städtischer Friedhöfe, hinterließen ihre Spuren. So fielen unter anderem auch viele Gräber des auf der Roten Insel befindlichen St.-Matthäus-Friedhofs und damit die ewige Ruhe hunderter Verstorbener den irren Germania-Plänen der Nazis zum Opfer. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Zerstörung der S-Bahn-Linie war den West-Berlinern der Besuch des Geländes nur noch per Passierschein möglich. Mit dem Mauerbau war dann auch diese Möglichkeit passé. Und auch das ist inzwischen Geschichte. Neben aktuell etwa 1000 Neubestattungen pro Jahr ist der Friedhof heute vor allem als denkmalgeschützte historische Gedenkstätte von großer Bedeutung.


August Stramm: * 29. Juli 1874, † 1. September 1915

Und damit zurück zu meinem Besuch dieses wirklich sehenswerten Geländes. Eine kleine, von der Friedhofsverwaltung herausgegebene Broschüre informiert über die Geschichte des Südwestkirchhofes und listet die Namen seiner prominenten Verstorbenen. Viele regionale sowie nationale Größen aus Wissenschaft, Kunst und Politik - von Max Adalbert bis Heinrich Zille. Und zwischen Namen wie Manfred Krug, Dieter Thomas Heck, Otto Graf Lambsdorff, Friedrich Wilhelm Murnau oder Gustav Langenscheidt fällt der Blick auf: „August Stramm, geboren am 29. Juli 1974 in Münster/Westfalen“ - Ja doch, habe ich schon mal gehört, Dichter, Expressionismus. Aber jetzt etwas aufsagen? Fehlanzeige! Warum es sich lohnt Versäumtes nachzuholen? Eine kleine Kostprobe:


Wunde

Die Erde blutet unterm Helmkopf
Sterne fallen
Der Weltraum tastet.
Schauder brausen
Wirbeln
Einsamkeiten.
Nebel
Weinen
Ferne
Deinen Blick.

Vor über einhundert Jahren ist er gestorben, am 1. September 1915. Gefallen im Ersten Weltkrieg als Hauptmann der Armee des Deutschen Kaiserreiches, in einer Schlacht bei Kobryn im heutigen Weißrussland. Einundvierzigjährig. Hinter ihm lagen, dem Vater zuliebe, eine Karriere als Postbeamter, dann die Promotion zum Dr. phil und von früh an auch immer wieder einige wenig zur Kenntnis genommene literarische Arbeiten. Bis er den Verleger Herwarth Walden kennenlernte und ab 1912 Gedichte in dessen Zeitschrift „Sturm“ veröffentlichen konnte. In den wenigen Jahren bis zu seinem Tod entfaltete August Stramm mit seinen Texten eine bis dahin ungehörte Kraft, die Herausgeber Kurt Pinthus im Vorwort seiner 1919 veröffentlichen Sammlung expressionistischer Gedichte „Menschheitsdämmerung – Symphonie jüngster Dichtung“ (Ernst Rowohlt Verlag) folgendermaßen beschreibt: „Stramm löste seine Leidenschaft vom Trugbild der Erscheinungen und Assoziationen los und ballte reines Gefühl zu donnernden Ein-Worten, gewitternden Ein-Schlägen. Der wirkliche Kampf gegen die Wirklichkeit hatte begonnen mit jenen furchtbaren Ausbrüchen, die zugleich die Welt vernichten und eine neue Welt aus dem Menschen heraus schaffen sollten.“ – Das verlangt nach einem weiteren Textbeweis.

Sturmangriff

Aus allen Winkeln gellen Fürchte Wollen
Kreisch
Peitscht
Das Leben
Vor
Sich
Her
Den keuchen Tod
Die Himmel fetzen
Blinde schlächtert wildum das Entsetzen

In einer Zeit, in der Dichter wie Gottfried Benn, Georg Trakl oder Georg Heym mit größter Intensität gegen eine untergehende Epoche ankämpfen und an einer Beteiligung zum Hervorbringen einer besseren Menschheit glauben, ist der Münsteraner August Stramm eine der radikalsten Figuren der Bewegung. Ein abenteuerlicher Avantgardist, der mit seinem quantitativ überschaubarem Werk bis heute nachwirkenden Einfluss ausübt. Ein Werk, das den großen Kurt Schwitters 4 Jahre nach Stramms Tod zu folgender, absolut liebenswerten Würdigung veranlasste: „Die Verdienste des August Stramm um die Dichtung sind sehr.“

Der Kopf des F.W. Murnau - Das Grauen geht weiter

Und dann steht man plötzlich vor der letzten Ruhestätte des Dichters. Nach einiger Suche, vorbei an unzähligen verwitterten Grabsteinen. Vorbei an der gewaltigen, von einer Ludwig-Manzel-Büste geschmückten Gedenktafel eines anderen großen Westfalen, des gebürtigen Bielefelders Friedrich Wilhelm Plumpe, der als Friedrich Wilhelm Murnau mit Werken wie „Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens“ Filmgeschichte geschrieben hat. Das Grauen kehrte übrigens zu Murnau zurück, als Grabschänder vor fünf Jahren seinen einbalsamierten Kopf entwendeten, der bis heute im wahrsten Sinne des Wortes vom Erdboden verschwunden ist. Vorbei auch am mit einem bedrohlichen Adler versehenen Grabe eines weiteren prominenten Münsteraners, dem des Alexander von Kluck. Obwohl 28 Jahre vor Stramm geboren überlebte er diesen um 19 Jahre. Dem Oberbefehlshaber der 1. Armee des deutschen Heeres im 1. Weltkrieg wird in seiner Heimatstadt immerhin mit einer eigenen Straße zwischen Kanonengraben und Hermannstraße gedacht. Das passt ja.


Die Strammsche Ruhestätte, auch Ehefrau Else Krafft-Stramm und Sohn Helmuth sind hier begraben, hinterlässt Eindruck. Zur Rechten eine bekannte Kammersängerin, zur Linken ein anonymer Nachbar auf ewig. Und ein Stein, dessen beunruhigende und zugleich tröstliche Inschriften Wirkung erzeugen. „Tränen kreist der Raum“ zitieren große Buchstaben den Anfang und das Ende des monumentalen August-Stramm-Gedichtes „Die Menschheit“, während in noch größeren Lettern der Hoffnung „Vielleicht sind wir noch einmal Sterne am Antlitz Gottes“ Ausdruck verliehen wird.
In das kollektive Gedächtnis der Münsteraner hat es August Stramm bis heute nicht geschafft. Wo die Stadt doch eigentlich jeden einigermaßen nennenswerten Hinz und jede fast glänzende Kunz stolz feiert, die innerhalb ihrer Mauern das Licht der Welt zu erblicken das Glück hatten. Es stellt sich doch die Frage, warum in Münster der Name Stramm nicht zumindest eine kleine Straße ziert. Obwohl, etwas größer als die Von-Kluck-Straße sollte sie schon sein. Oder, noch besser, nehmt doch gleich einen großen Platz! Noch ein Gedicht?

Vorfrühling

Pralle Wolken jagen sich in Pfützen
Aus frischen Leibesbrüchen
schreien Halme Ströme
Die Schatten stehen erschöpft
Auf kreischt die Luft
Im Kreisen, weht und heult und wälzt sich
Und Risse schlitzen jählings sich
Und narben
Am grauen Leib
Das Schweigen tappet schwer herab
Und lastet!
Da rollt das Licht sich auf

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Manfred Wex
ist seit 35 Jahren bei der nadann… , Musiker (u. a. Walking Blues Prophets) und lebt in Berlin.
manfred.wex@nadann.de

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