Von , 29.04.2020

Volker Hentig und TanzWerk

Taxis gibt’ noch nicht? Kein Problem!

Wir sind noch einmal davongekommen!?
Februar 1947. Ich sah im Hebbel-Theater in Berlin dieses Theaterstück von Thornton Wilder. Das Theater war ungeheizt. Der Vorstellungsbeginn um 15 Uhr, weil abends die Stromsperre begann. Wir saßen in Wintermänteln, ich war fast 2 Stunden mit S- und U-Bahn dorthin unterwegs gewesen, zu Umwegen gezwungen, weil Tunnel zerstört, Brücken kaputt. Der ewige Gast Hunger war mitgekommen. Dann vergaßen wir alles Elend ringsum und wurden gefangen genommen von einer Geschichte der großen Katastrophen der Menschheit, verdichtet auf 2 Stunden, chaotisch, hoffnungsvoll. Wir waren davongekommen, von der Eiszeit bis nach diesem 2. Weltkrieg. Wie war das möglich?
Mutter hatte davon erzählt, dass sie schon einmal neu anfangen mussten, nach der Spanischen Grippe und der Inflation, die ihr folgte. Damals, nach dem Ende des Weltkrieges 1918, wäre eine furchtbare Epidemie durch das Land gezogen, hunderttausende seien daran gestorben. Im Hof der Charite hätte man Zelte für die Erkrankten errichtet. Viele Geschäfte hätten schließen müssen und Straßenbahn und UBahn wären seltener gefahren. Endlich, als das vorbei gegangen war, begannen die Preise zu steigen. Sie sei immer öfter mittags zu Vaters Arbeitsstelle gefahren, wenn der Lohn ausgezahlt wurde, um dann schnell etwas zum Essen zu kaufen für die nächsten Tage, zum Schluss änderten sich die Preise täglich, ja stündlich. 1923 war diese Periode dann zu Ende. Aus einer Billion Mark wurde eine Rentenmark. Großvater hatte den Hof für Millionen Mark verkauft, glücklich über den Gewinn. Ein paar Monate später reichte die Million gerade dazu, ein halbes Pfund Butter zu kaufen. Seine Pension als Lehrer, bei ihrer Festsetzung zum Bestreiten des alltäglichen Lebens gedacht, schmolz in ihrem Wert, kaum war ein Briefporto davon zu bezahlen.
Daran erinnerte ich mich, als ich in der stockfinsteren Straßenbahn stand, die mich vom Hebbel-Theater zur nächsten UBahn brachte. Stockfinster, weil ihre Fensterscheiben durch Pappe ersetzt waren durch die kein Licht fiel. Als Kind schienen mir diese Erzählungen wie gruselige Märchen. So schlimm war es sicher nicht, denn die Eltern hatten in diesen Jahren geheiratet, und ich war in einer geräumigen Wohnung aufgewachsen, wir wurden satt und wuchsen unbeschwert in unser Leben hinein. Irgend etwas musste sie befähigt haben, Krankheit und Geldmangel zu überleben, ja, uns Kindern fröhliche Lebensspender zu sein. Ich begann, nachzudenken.
Sie hatten Auswege gefunden. Jetzt mussten sie mit uns zusammen wieder welche finden. Wir hatten eigentlich schon damit begonnen. Waren wir erfroren? Nein, denn Mutter hatte einen Handwagen organisiert, ich einen Mitschüler mit Bügelsäge aufgetrieben, wir hatten uns abends in den Wald geschlichen und eine Birke zu Fall gebracht, Birkenholz, so wusste ein anderer, der uns nicht verpfiff, brennt auch schneefeucht. Kiefern zischen, knallen und verlöschen. War Mutter mit mir nicht kurz vor Weihnachten, als wir wirklich zu verhungern drohten, mit der drangvoll bevölkerten Kleinbahn weit in die Mark hinaus gefahren, ohne festes Ziel – wir hatten uns dann von der Gruppe der Hamsterer getrennt, die das Dorf am Haltepunkt stürmten und waren auf dem eine Stunde entfernten Gutshof fündig geworden und mit einem Rucksack voller Kartoffeln, ein wenig Schmalz und ein paar Körnern zurück gekehrt? War ich nicht in einer Zeit der Arbeitslosigkeit (wo sollte es denn Arbeit geben?) zu einem Job beim Arbeitsamt gekommen, weil eine Mitschülerin, die inzwischen dort angestellt war, mir die freie Stelle als Bote zuschanzte? Das war zwar mühevoll, denn ich hatte als eine Art Hilfspostbote in unseren drei Nachbargemeinden den ganzen Tag herumzulaufen und amtliche Briefe zuzustellen, aber es gab Geld, eine Aufstufung der Lebensmittelkarte, ein paar Sonderzuteilungen. Mit einem Zeugnis der Behörde würde ich vielleicht einmal einen Einstieg in einen Beruf leichter bekommen.
Und da merkte ich – wir hatten gar nicht resigniert und auf ein Wunder gewartet, wir hatten einfach Dinge, die „am Wege“ lagen, gesehen und Initiative ergriffen. Noch war alles ziemlich grau und die Zukunft unsicher, aber wir würden es schon schaffen wie die Eltern in den Zwanzigern. Obwohl wir sehr viel näher am Punkt Null beginnen mussten.
Wir haben es „geschafft“. Es war nicht einfach. 70 Jahre später suche ich rückblickend nach den Rezepten, mit denen es gelang. Sie haben geholfen andere Krisen zu meistern. Davon gleich mehr.


„Und dann wird wieder in die Hände gespuckt…“
(„… wir steigern das Bruttosozialprodukt“)

Geier Sturzflug führten 1982 wochenlang mit diesem Hit die Charts der „Neuen Deutschen Welle“ an. Zurückblickend sehe ich, dass in dem Text, der viel Ironie enthält, manche Wahrheiten versteckt sind. Er weckt Erinnerungen an eine vergangene schwere Zeit für meine Generation und eine gleichzeitig glückliche Zeit. Widersprüchlich? Und warum fällt mir das heute auf? Weil das Heute in ein unerfreuliches Morgen führen könnte und ich weiß, dass schwierige Zeiten bewältigt werden können, trotz der heute so ganz anders erscheinenden Voraussetzungen. Ja, natürlich, nun haben wir das Internet und Dr. Google und Wiki und Facebook. Sei es drum, ich (90) erzähle nicht virtuell, sondern aus einem gelebten Leben. Von den Lebensumständen und unserem Aufbruch vom Punkt Null an, dem Kriegsende 1945. Es gibt nutzbare Parallelen, scheint mir.

Trümmer beseitigen für die Studienzulassung

Wir waren also noch einmal davongekommen, wie ich schon schrieb. Was befähigte uns, mit dem zerbrochenen Land, dem unterbrochenen Dasein, dem Trauma des Krieges fertig zu werden, wir, die jungen Erwachsenen, deren Vergangenheit zu Schrott wurde, und die sich auf unbekannten Wegen in eine unvorstellbare Zukunft auf den Weg machten? Damals beherrschten uns drei Gedanken: Woher bekommen wir etwas zu essen? Wo können wir Brennstoff für den Winter organisieren, kommt Vater aus der Kriegsgefangenschaft wieder? Aber, wenn wir uns mit Gleichaltrigen trafen, ging es lustig zu, ungeachtet der ärgerlichen Mienen der frustrierten Erwachsenen. Wir quatschten unsere Zukunftssorgen weg, mit Mundharmonika, gemeinsamem Singen der alten Volkslieder. Der innere Druck, der auf uns lastete, verschwand für ein, zwei Stunden. Natürlich, „Quellen“, kamen auch ins Gespräch. Wo kann man alte Fahrradreifen auftreiben, wie kann man aus ausgewachsenen Pullovern die Wolle zum Stricken von neuen gewinnen? Aber auch: Wann beginnt eigentlich wieder der Schulunterricht? Was willst du später mal machen, wenn wieder bessere Zeiten sind? Und über erfolgreiche Tauschaktionen und kleine Schwarzmarktgeschäfte informierte man sich natürlich auch. Was will ich damit sagen? Verlässliche Freunde wurde wichtiger als zuvor. Kleine Netzwerke wurden aufgebaut. Wir warteten nicht auf etwas, sondern begannen, unter Schwierigkeiten, selbst etwa zu tun.


Ich war einer, der sich 1947 auf den Weg in die Zukunft machte.

Bis zur Schule waren es 5 Kilometer, 10 hin und zurück. mit abgelatschten Schuhsohlen, leerem Magen. Ein Bus konnte uns hinbringen. Wir rätselten nicht mit anderen an der Haltestelle, ob er wohl heute verkehren würde – Motorpannen, fehlende Ersatzreifen, kein Benzin, alles immer möglich – wir nahmen den Weg unter die Füße, um keine der kostbaren Schulstunden zu versäumen „das Wichtigste zuerst“. Wir wünschten uns so sehr die Rückkehr in die legendären Friedenszeiten, aber wir wussten, das leckere Speiseeis würde es noch lange nicht geben, jetzt kam es darauf an, den Alltag wieder erträglich zu machen. Manchmal kommt es mir heute unglaublich vor, in dieser Zeit der Ungewissheit trafen wir uns wintertags zum Tanzunterricht. Ja, jeder hatte etwas Brennstoff mitzubringen, im alten Gaststättensaal wurde der Ofen angeheizt, das Tanzlehrerpaar kurbelte das altersschwache Grammophon an, wir legten unsere Mäntel ab, unsere Mädels tanzten in ihren ererbten Kattunkleidern mit Strickjacke, die Jungs mit ihren dunkelblauen Uniformhosen und in Opas Jackett. Das waren wunderbare Stunden, die Partnerin im Arm, nichts als Beschwingtheit. Was nahmen wir mit? Mut für die nächste Woche, ein bisschen Verknalltheit und den Gedanken, jetzt endlich energisch einen Beruf anzusteuern, schließlich wollten wir ja mal richtig erwachsen sein (… und heiraten?).


Wir suchten uns ein Zukunftsziel. War es nicht direkt zu erreichen – wo ist ein Umweg, der dorthin führt? Kompromisse waren und sind nötig. Ich habe ein Jahr lang auf einem Bauernhof Stall ausgemistet, Kartoffeln gebuddelt, in einem Straßenbahndepot geholfen, die betagten Wagen instand zu halten, wenn es nötig war, auch nachts. Schufterei bei guter Verpflegung. Dann hatte ich meine Studienzulassung in der Tasche. Kommilitoninnen räumten den Trümmerschutt vor der Uni weg. Dann waren auch sie akzeptiert.
Werkzeuge für die Gegenwart? Einige werden kaum andere sein als unsere damals: Selber aktiv werden, auf das Ziel kommt es an, Phantasie entwickeln und trotzdem in der Realität planen, gut gemeinten Ratschlägen erst nach Prüfung folgen, nützen sie wirklich? Zwischenlösungen und Umwege, auch mühevolle, akzeptieren, nicht immer dem Mainstream folgen. „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommste ohne ihr“ sagt der Berliner. Gemeinschaft wird wichtig, Altruismus ist in solchen Zeiten ein ehrenwerter, aber nicht immer angebrachter Luxus. Vor allem Anderen: anfangen musst du selber und beharrlich sein. Und überzeugt davon, dass du es schaffst. Spuck mal in die Hände und steigere dein eigenes Bruttosozialprodukt, du kannst es!

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Volker Hentig

Volker Hentig
Volker Hentig ist 90 Jahre alt und wohnt mit seiner Frau in Bielefeld. Beruflich war er Unternehmer.


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TanzWerk Münster
der Verein rund ums Tanzen in Münster und Umgebung

Eigentlich wäre am 29. April (Mittwoch) ein bunter, vielfältiger Tanz-Parcours durch das LWL-Museum und über den Aegidiimarkt geplant. Anlass ist der jährliche Welttanztag. Für viele ist dieser Parcours schon ein festes und etabliertes Highlight in der Tanzszene.
Nun reihen sich die Mitglieder des TanzWerk Münster e.V. in die Riege der Kulturschaffenden ein, die jetzt unter den Veranstaltungsabsagen leiden, nicht zusammen trainieren und ihre Kreativität nicht direkt mit Publikum teilen können. Aber wir wollen, wie viele andere auch, das Beste daraus machen und laden ein zum digitalen Welttanztag unter dem Motto
„Tanzvirus Münster 2020“ am 29. April
Nicht nur die Mitglieder des Vereins sind aufgerufen Tanzvideos einzusenden, sondern alle, die sich gern tänzerisch ausdrücken. Also jede und jeder, der Tanz als Hobby pflegt oder einfach ab und an gern für sich zuhause tanzt.
Diese Videos werden auf der Webseite von TanzWerk Münster - www.tanzwerk-muenster.de - sowie auf den Social-Media-Plattformen des Vereins veröffentlicht.

TanzWerk-Münster-Vorstand: Jörg Gikas (links oben), Charlotte Giesen (rechts oben), Cora Georgi (Leiter links), Carolin Schumacher (Leiter rechts) sowie Nicoletta Gikas (Mäuerchen) Fotonachweis: TanzWerk Münster

Wie bei den Tanz-Parcours der Vorjahre, bei denen sich meist 25 bis 30 Gruppen tänzerisch durch die münstersche Innenstadt bewegten, geht es auch beim Tanzvirus 2020 darum, die Vielfalt des Tanzes in Münster zu zeigen und zum Mitmachen einzuladen. Videos können per Mail an info@tanzwerk-muenster.de gesendet werden. Für größere Dateien eignen sich z.B. Anwendungen wie We transfer oder Google Drive.


Tanzen ist gesund, auch während der Corona-Krise. Diese Kunstform steht für Bewegung, Kreativität und Begegnung. Mit ‚Tanzvirus 2020‘ laden wir dazu ein, auf schöne gemeinsame Tänze und Tanzstunden zurückzublicken sowie schöpferisch und aktiv in der Krise zu sein. Der Grundgedanke von TanzWerk Münster ist die Vernetzung von Tänzern und Tanzangeboten sowie die Bereitstellung einer Plattform für Tanz. Genau das machen wir auch in diesem Jahr wieder mit dem Welttanztag 2020.

Archivtexte Gastbeitrag