Von Volker Hentig, 20.05.2020

Volker Hentig

Rütli ?
Heute ein Wiesenhang am Vierwaldstätter See, auf dem Kühe weiden. Eine heilige Wiese für Schweizer Bürger. Dort reichten sich der Sage nach 3 Männer vor 700 Jahren ihre Hände (jedenfalls malte J.H. Füssli das später so) und schworen Blutsbrüderschaft. Ein deutscher Dichter des 18. Jahrhunderts, Schiller, formulierte ihren Schwur „… lasst uns sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr…“. Die drei Recken symbolisieren die Bewohner aus den Kantonen Uri, Schwyz und Nidwalden. Ihre Basisdemokratie hat alle inneren Vereingungswehen überstanden.

Man spricht dort 4 Sprachen – deutsch, französisch, italienisch und rätoromanisch. Von der lebhaften Großstadt über liebliche alte Kleinstädtchen bis zum bescheidenen Alphof, vom Bodensee bis zur Rheinquelle, kargen Alpenregionen bis zu den Weingärten im Tessin ist jede Lebensweise, reich und arm, jede Landschaft, zu finden wie in der so viel größeren Europäischen Union. Sogar die Zahl der Kantone (26) entspricht den 27 Staaten der EU.

Die Schweiz ein Modell für unsere europäische Zukunft? Wenigstens für die aus 16 Bundesländern bestehende deutsche Republik? Immerhin, wir Deutschen sprechen eine gemeinsame Sprache, wenn auch mit unterschiedlichen Dialekten. Manchmal, und gerade jetzt, denke ich, scheint es doch nicht ganz so einfach zu sein. Da ist in den Köpfen einiger Politiker und in einigen politischen Gruppierungen wohl noch der eigene Kleinstaat der Ur-Urgroßeltern mit seinen Grenzbarrieren in Erinnerung und der mühsame Kampf für ein gemeinsames Deutschland von 1848 noch nicht ganz zu Ende gegangen.
Als die Visionen von Friedrich List, ein Eisenbahnnetz zu bauen, um 1850 Wirklichkeit zu werden begannen, als damit der Austausch von Nachrichten wie von Waren und Personen von tagelangen Reisen zu stundenschnellen Übermittlungen führte, zerbrachen die Schranken zwischen den Grafschaften, Herzogtümern, Königreichen. Ein zentraler, föderalistisch gegliederter, Staat entstand. Nach allerlei Umwegen sind wir hier und heute gelandet.
Dankbar für die erreichte Einheit in Vielfalt sollten wir sein, das vermisse ich aber manchmal doch. Welch eine Genugtuung, in dieser frühen Corona-Situation einmal alle Ministerpräsidenten geschlossen handelnd zu erleben, aber immer größer wird die Sorge, ob bei dem, was nun vor uns liegt, nämlich die Rekonstruktion in Verbindung mit dem Neubau, ihre Partikularinteressen nicht Oberhand gewinnen. „Lasst uns sein ein einig Volk von Brüdern (und Schwestern), in keiner Not uns trennen…“ Nur gemeinsam sind wir stark. Muss ein Rütlischwur her?

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Volker Hentig ist 90 Jahre alt und wohnt mit seiner Frau in Bielefeld. Beruflich war er Unternehmer.


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